Neurologie

Fortschrittliche Schlaganfallbehandlung in Südostasien

Bei einem Schlaganfall gilt der Grundsatz: „Time is Brain“. Lesen Sie, wie Menschen im weitläufigen Mekong-Delta im Notfall rechtzeitig Hilfe finden.

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Justus Krüger
Veröffentlicht am 27. Oktober 2021

Schlaganfälle sind weit verbreitet und weltweit eine der häufigsten Ursachen für Tod und Behinderung. Doch in vielen Teilen der Welt ist eine fortschrittliche Behandlung nur schwer oder gar nicht zugänglich. Ein Experte des Stroke International Services (SIS) General Hospital im vietnamesischen Mekong-Delta entwickelt Wege zur Optimierung des klinischen Betriebs und zur Erweiterung des Fachwissens.

Dr. Cuong Tran Chi arbeitet in Can Tho City im Mekong-Delta im äußersten Süden Vietnams. Er ist Mitbegründer des Stroke International Services (SIS) General Hospital, das die beste derzeit verfügbare Schlaganfallbehandlung bietet. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Ausbildung von Ärzt*innen, die dann als Multiplikatoren den Erfolg des SIS in ganz Südostasien und darüber hinaus reproduzieren können. Im riesigen Mekong-Delta im Süden Vietnams leben mehr als 20 Millionen Menschen. „Vor Gründung des SIS war Ho Chi Minh City, auch bekannt als Saigon, der nächstgelegene Ort mit einem guten Behandlungsangebot für Schlaganfallpatient*innen“, sagt Cuong. Daher dauerte es häufig zu lange, bis Schlaganfallopfer diese Krankenhäuser erreichten.

Eine ähnliche Situation herrscht auch in anderen Teilen des Landes: Vietnam ist zwar ein aufstrebendes, erfolgreiches Land, doch seine Infrastruktur befindet sich noch im Optimierungsprozess. Das gilt auch für medizinische Versorgungsstrukturen. Flächenmäßig ist Vietnam mit Deutschland vergleichbar, doch ist das Land dichter besiedelt: Mit seinen 95 Millionen Einwohner*innen ist es etwa 15 Prozent bevölkerungsreicher als Deutschland und etwa ein Drittel größer als das Vereinigte Königreich oder Frankreich. In Vietnam ereignen sich rund 200.000 Schlaganfälle pro Jahr ‒ die meisten davon nicht in der Nähe eines Krankenhauses oder modernen Schlaganfallzentrums. Noch vor zwei Jahren erreichten daher über 90 Prozent der Patient*innen das Krankenhaus erst sechs oder mehr Stunden nach Auftreten des Schlaganfalls.

Bei Schlaganfällen sind jedoch, mehr noch als bei den meisten anderen Erkrankungen, eine schnelle Diagnose und rechtzeitige Versorgung entscheidend für den Behandlungserfolg. Das enge Zeitfenster, in dem eine optimale Behandlung möglich ist, wird als „goldene Stunde“ bezeichnet. Deswegen war die Einrichtung eines Zentrums wie SIS im Mekong-Delta von so großer Bedeutung.

Patienten, die innerhalb der ersten Stunde nach einem Schlaganfall behandelt werden, haben eine hohe Überlebenschance und können bleibende Einschränkungen vermeiden.
Seit seiner Eröffnung im Jahr 2019 hat das SIS Can Tho Hospital mehr als 90.000 Patient*innen Zugang zu moderner medizinischer Versorgung verschafft. Neben den Schwerpunkten Schlaganfallbehandlung und Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist das Zentrum die erste Anlaufstelle für eine umfassende Versorgung in den Bereichen Chirurgie des Bewegungsapparates, angeborene Herzstörungen, Herzrhythmusstörungen und erweiterte Gesundheitsvorsorgeleistungen. „Das ist eine unglaubliche Zahl“, sagt Cuong.

Cuong Tran Chi, MD, Director of Stroke International Services General Hospital, Can Tho city, Vietnam

„Viele dieser Patient*innen leben in extremer Armut und können sich insbesondere komplexere endovaskuläre Behandlungen wie Thrombektomie oder Stenting nicht leisten.“ Das SIS kennt die Probleme armer Menschen und hat in den letzten zwei Jahren mehr als 200 Bedürftige kostenfrei behandelt.

Im September 2020 gründete das SIS außerdem eine in 13 Städten und Provinzen des Mekong-Deltas tätige „Stiftung für bedürftige Schlaganfallopfer im Mekong-Delta“, die vom Innenministerium offiziell genehmigt wurde. Stiftungszweck ist, arme Patient*innen bei den medizinischen Kosten und der Behandlung von Schlaganfällen und Herzkrankheiten zu unterstützen.
Ohne gute Partner wäre das nicht möglich gewesen, erzählt Cuong. „Der Betrieb unseres Schlaganfallzentrums erfordert erhebliche Investitionen. Siemens Healthineers hat uns dabei stark unterstützt.“
Von Anfang an wollten Cuong, sein Team und die Partner die Möglichkeiten des Zentrums möglichst breit nutzen. „Natürlich ist das SIS dazu da, die Bedürfnisse der Patient*innen zu erfüllen. Es war aber auch von Beginn an als Ausbildungszentrum für neuroendovaskuläre Eingriffe und Schlaganfallbehandlung für Vietnam und Südostasien gedacht“, so der Arzt.

Um ein gutes Ausbildungszentrum zu entwickeln, müssen gewisse Voraussetzungen gegeben sein, sagt er: Die erste sind erfahrene, fachlich kompetente Menschen. „Wir haben ein sehr gutes Team zusammengestellt, sowohl aus Ho Chi Minh City als auch aus dem Ausland“, erzählt er. Daneben benötigen wir eine sehr gute Ausrüstung, und die haben wir beim SIS. Und schließlich können wir dank der Unterstützung der Stiftung viele Patient*innen behandeln. „Wir erfüllen also alle Voraussetzungen“, sagt Cuong.

Fakten und Zahlen über das Stroke International Services General Hospital
Das SIS rechnet damit, in den nächsten fünf Jahren für jede Provinz Vietnams mindestens einen oder zwei interventionelle Neuroradiolog*innen auszubilden, die dann in jeder der 63 Provinzen des Landes neurologische Eingriffe durchführen können. Um die Rolle des SIS als internationales Ausbildungszentrum über Vietnam hinaus weiter zu stärken, veranstaltete das Krankenhaus 2019 die erste Asian Stroke Summer School, an der mehr als 100 Fachkräfte für Neuroradiologie und Schlaganfall aus Vietnam, Laos, Kambodscha und Indonesien sowie aus Pakistan und Südafrika teilnahmen.

Die Sommerschule kombinierte in einem besonderen Format Plenarsitzungen und Diskussionen mit praktischen Übungen. Dazu gehörten eine Reihe von Lehrveranstaltungen, Kurse zum akuten Schlaganfallmanagement sowie eine praktische Ausbildung für interventionelle Neuroradiolog*innen. Cuong und sein Team gestalteten die Sommerschule nach dem Vorbild der ebenso effektiven European Stroke Winter School, die jedes Jahr in Bern, Schweiz, stattfindet.
„Tatsache ist: In unserer Region steht ein sehr hoher Bedarf an Schlaganfallbehandlung einem geringen Angebot an Fachwissen gegenüber. Mit anderen Worten: Wir haben nicht genug Ärzt*innen.“ Das SIS und die Summer School sollen das ändern. Zwar hat Vietnam mehrere Jahrzehnte lang ein starkes Wirtschaftswachstum genossen und gehört in jeder Hinsicht zu den führenden Ländern Südostasiens. Leider ist jedoch die Lage bezüglich Schlaganfallbehandlung in einigen Teilen des Landes immer noch unzureichend.

„In einigen südostasiatischen Ländern gibt es nur sehr wenige neurointerventionelle Ärzt*innen, die Schlaganfälle endovaskulär behandeln können,“ so Cuong. „Deshalb bauen wir gerade ein Schlaganfallnetzwerk auf, indem wir unser Ausbildungsangebot auf diese Länder ausweiten, insbesondere auf weniger privilegierte Regionen.“ Der Bedarf an guter Behandlung besteht in ganz Vietnam und Südostasien. Cuong, SIS und ihre Partner arbeiten an Wegen, um dieses Ziel zu erreichen.

Von Justus Krüger
Der seit vielen Jahren in Hongkong lebende und mit Südostasien vertraute Journalist Justus Krueger schreibt regelmäßig für die South China Morning Post, den Stern, die Berliner Zeitung, den Spiegel, die NZZ und viele andere Publikationen. Er ist spezialisiert auf Wirtschafts- und Wissenschaftsthemen sowie auf Zeitgeschehen.