Thrombektomie bei Schlaganfall: Lebensrettende Neurointerventionen erfolgreich umsetzen

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Philipp Grätzel von Grätz
Veröffentlicht am 12. März 2020

Fortschritte in der Kathetertherapie haben die Schlaganfallversorgung in den letzten Jahren revolutioniert. Interventionelle Radiologen können heute Patienten mit schwersten Schlaganfällen oft noch retten, falls sie rechtzeitig im Krankenhaus ankommen. Weltweit arbeiten interventionelle Radiologen daran, Kathetertherapien möglichst allen Patienten zur Verfügung zu stellen, die davon profitieren könnten. Doch noch bleibt einiges zu tun.

Fotos & Video: Bernd Schumacher


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Viele Krankenhäuser überall auf der Welt versuchen derzeit, die Schlaganfallversorgung zu optimieren. Bisher wurden Patienten bei Verdacht in eine Klinik mit Stroke Unit gebracht, wo die Diagnose gestellt und, wenn möglich, eine Thrombolysetherapie eingeleitet wurde. Heute ist die Behandlung etwas komplexer: Ärzte können Blutgerinnsel, die Hirnarterien verstopfen, mithilfe von Stent Retrievern direkt mechanisch entfernen. Insbesondere bei Patienten mit schweren Schlaganfällen, die große Blutgefäße betreffen, seien die klinischen Erfolg oft beeindruckend, sagt Prof. Dr. Christian Loewe, Leiter der Abteilung für Kardiovaskuläre und Interventionelle Radiologie an der Medizinischen Universität Wien (MUW): „Es gibt Patienten, die wenige Wochen nach einem schweren Schlaganfall wieder arbeiten. Das hätte es vor fünf Jahren nicht gegeben. Wir erhalten regelmäßig Dankesbriefe. Kaum eine andere Innovation der letzten Jahre hat die Versorgung so grundlegend verbessert.“


Prof. Dr. Christian Loewe, Leiter der Abteilung für Kardiovaskuläre und Interventionelle Radiologie, Medizinische Universität Wien

Die Thrombektomie beim Schlaganfall ist hoch effektiv, aber nicht einfach: „Wir arbeiten heute nicht mehr mit strengen Zeitfenstern, aber grundsätzlich gilt immer noch: ‚time is brain‘ – Zeit ist Gehirn. Wir müssen schnellstmöglich eine Diagnose stellen und behandeln“, so Loewe. Damit das funktioniert, müssten alle relevanten Fachgebiete eng kooperieren, betont Dr. Florian Wolf, stellvertretender Leiter der Abteilung für Kardiovaskuläre und Interventionelle Radiologie: „Tatsächlich hat das bei uns an der MUW anfangs nicht so gut funktioniert. Mittlerweile ist es uns aber gelungen, die ‚Door-to-Needle‘-Zeit massiv zu reduzieren.“

Geschwindigkeit ist ein wichtiger Faktor, vernünftige Ausstattung ein anderer. Die Abteilung für Interventionelle Radiologie der MUW hat kürzlich das Angiographiesystem ARTIS icono biplane von Siemens Healthineers angeschafft. Für Wolf führt das gerade bei der Schlaganfallversorgung zu einem Ausbau der Präzisionsmedizin: „Durch die zwei Ebenen wird die Schlaganfall-Thrombektomie sicherer, besser und schneller. Das Komplikationsrisiko sinkt, weil die Anatomie der Blutgefäße viel klarer ist. Früher mussten wir für die zweite Ebene den C-Arm umständlich um 90 Grad drehen – und deswegen wurde es oft nicht gemacht. Jetzt sind 3D-Aufnahmen völlig problemlos. Neurointerventionen werden so viel präziser.“

Die Zahl der Katheterinterventionen beim Schlaganfall steigt weltweit. Aber noch immer erhalten viele Patienten mit ischämischem Insult keine Thrombektomie, obwohl sie davon profitieren würden: „In Wien schätzen wir, dass nur jeder dritte Patient, der von einer Thrombektomie profitieren würde, sie auch erhält“, sagt Loewe. Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist die präklinische und frühe klinische Versorgung vielerorts noch nicht adäquat auf die neuen Versorgungsoptionen eingestellt. Aufklärung tut not, denn trotz zahlreicher Kampagnen werden Schlaganfälle immer noch zu spät diagnostiziert. Ein weiteres Problem ist, dass in vielen Ländern noch nicht genügend Einrichtungen Neurointerventionen für Schlaganfallpatienten anbieten.


Dr. Florian Wolf, stellvertretender Leiter der Abteilung für Kardiovaskuläre und Interventionelle Radiologie, Medizinische Universität Wien

Für ein Krankenhaus zählt, wie sich aus den für die Schlaganfall-Thrombektomie nötigen Investitionen in moderne Angiographie-Systeme das beste herausholen lässt: „Sogar in einer großen Universitätsklinik ist es nicht möglich, das System alleine mit Schlaganfallpatienten zu betreiben“, betont Loewe. Das System lässt sich auch für andere Neurointerventionen nutzen, insbesondere für das Coiling von Aneurysmen. An der MUW fällt das Coiling aber nicht ins Aufgabenfeld der interventionellen Radiologen. Die Wiener nutzen das neue Angiographie-System deshalb zusätzlich für Interventionen in anderen Körperregionen.

„Bei Embolisationen in der Leber oder der Prostata hat das neue biplane System zum Beispiel große Vorteile“, sagt Wolf. „Auch bei vaskulären Malformationen, bei denen mit flüssigen Lysaten gearbeitet wird, ist die zweite Ebene außerordentlich hilfreich.“ Sogar vermeintlich simple Interventionen, wie die Platzierung einer PEG-Sonde, werden präziser und komfortabler. Komplexere Interventionen sowieso: „Ich habe das System kürzlich für eine TIPS-Prozedur genutzt“, erinnert sich Wolf. „Nach einem kurzen Blick auf die zwei Ebenen wusste ich genau, wo ich den Shunt platzieren musste. Indem wir das neue biplane System zusätzlich für solche und viele andere Prozeduren nutzen, erreichen wir eine volle Auslastung.“

Ein Flaschenhals für den Ausbau der interventionellen Schlaganfalltherapie könnte die Zahl der Ärzte sein, die für derartige Interventionen qualifiziert sind. Wenn Schlaganfall-Thrombektomien flächendeckend angeboten werden sollen, dann werden deutlich mehr Experten nötig sein, als derzeit verfügbar sind. Mit modernen Simulationssystemen kann das Thrombektomie-Training ausgeweitet werden. „Bisher lernt man Thrombektomien meist durch ‚Learning-by-Doing‘ während realer Interventionen“, so Wolf. „Ich bin überzeugt, dass die Zukunft den Simulatoren gehört.“

An der MUW ist die Abteilung für interventionelle Radiologie gerade dabei, einen Mentics Simulator zu erwerben. Er kann an das Display und die tischseitigen Controller des ARTIS icono angedockt werden: „So können unsere jungen Kollegen an echten Angiographie-Tischen und mit echten Monitoren lernen. Das macht die Simulationen noch realistischer“, so Loewe. Klar ist aber auch: Patienten gehen immer vor.


Von Philipp Grätzel von Grätz

Philipp Grätzel von Grätz lebt und arbeitet als freiberuflicher Medizinjournalist in Berlin. Seine Spezialgebiete sind Digitalisierung, Technik und Herz-Kreislauf-Therapie.