Vielfalt, Gleichberechtigung & Zugehörigkeit

“Ich bin mehr als meine Diagnose”

Sabrina wurde mit dem hypoplastischen Linksherzsyndrom geboren und möchte anderen mit ihrer Geschichte Mut machen.

5min
Andrea Lutz
Veröffentlicht am September 29, 2021
Sabrina Lorenz ist Studentin, Speakerin, Inklusions-Aktivistin. Und es folgen ihr Sechzehntausend auf Instagram oder kennen ihren Online-Blog. Zwangsläufig macht die junge Frau sich schon von Kind an Gedanken über ihr Herz und seine Funktionen, denn Sabrina wurde mit nur einer funktionsfähigen Herzkammer geboren – genauer gesagt mit einer Variation des hypoplastischen Linksherzsyndroms.

Hypoplastisches Linksherzsyndrom

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Etwa eines von 100 Kindern kommt mit einem Herzfehler zur Welt – noch deutlich seltener hat ein Neugeborenes eine so gravierende Diagnose wie Sabrina. Im Rahmen von mehreren Operationen musste noch im Kleinkindalter nach und nach ihr gesamtes Herz-Kreislauf-System zum Fontan-Kreislauf umgebaut werden.

„Der Umbau hat dafür gesorgt, dass ich leben kann. Was ich mit diesem Leben mache, liegt jetzt in meiner Verantwortung“, sagt sie. Auf Instagram sieht man die junge Frau mit ihren Narben und der Sauerstoffbrille, die ihr an manchen Tagen ein Mehr an Sauerstoff zuführt. Ganz bewusst thematisiert Sabrina in den sozialen Medien die Benachteiligungen, die behinderte und chronisch kranke Menschen wie sie erfahren.

Sie spricht offen über Einsamkeit und Weltschmerz. Zugleich sind ihre Posts aber auch ermutigend, kraftvoll und ehrlich und in Sabrinas „fragments of living“ findet die Community starke Inhalte. Denn über allem steht für Sabrina die eine Botschaft: "Meine Erkrankung ist in jedem Lebensbereich präsent und um ein Leben zu führen, welches sich für mich richtig anfühlt, möchte ich mit meinem Körper arbeiten, nicht gegen ihn. Und ich möchte mit meiner Erkrankung und meinen Bedürfnissen gesehen werden - nicht auf diese beschränkt werden. Daher bin ich mehr als meine Diagnose."
Durch die Unterentwicklung der linken Herzkammer, wurden der Körper- und der Lungenkreislauf von derselben Herzkammer versorgt. Dabei hatte sich das sauerstoffarme und -reiche Blut vermischt und der Körper wurde mit zu wenig Sauerstoff beliefert. Eine Überlebenschance war für Sabrina nur gegeben, indem Körper- und Lungenkreislauf getrennt wurden. Bei einer Umstellung zum sogenannten Fontan-Kreislauf werden diese Kreisläufe wieder voneinander getrennt. Das neu geschaffene Ein-Kammer-Herz kann nun das sauerstoffreiche Blut in den Körper pumpen. Durch ein eingesetztes Röhrchen wird das sauerstoffarme Blut vom Körper am Herzen vorbei in die Lunge geleitet. Hier wird das Blut wieder mit Sauerstoff aufgefüllt und gelangt zurück ins Herz.
picture showing Sabrina Lorenz
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Sabrina hat dank der herzchirurgischen Eingriffe überlebt, das Resultat ist aber kein „normales“ Herz- und Kreislaufsystem. Als Folge ist Sabrina vermindert körperlich belastbar und es sind durch eine unzureichende Sauerstoffversorgung auch schon Organschädigungen eingetreten. Die Studentin kann ihren Gesundheitsstatus nicht voraussehen, muss Verabredungen häufig absagen, weil sie nicht weiß, ob ihr an einem Tag genügend Kraft für ihre Vorhaben zur Verfügung steht.

„Chronisch krank zu sein bedeutet, sich immer wieder an einen neuen Zustand zu gewöhnen. Es bedeutet, mit meinen Freund*innen nicht mithalten zu können und eigene Bedürfnisse zurückzustecken, weil die Erkrankung manchmal den ganzen Raum einnimmt. Man kann es sich vorstellen wie in einem Videospiel: Mein Energiebalken sinkt schnell ab. Ich muss mich manchmal entscheiden, ob ich die Wäsche wasche oder ob ich koche und meinen Alltag nach dem verfügbaren Energielevel planen“, erklärt die junge Frau. „Manchmal ist nur wenig Energie verfügbar und ich kann nicht mal aufstehen. Ich musste lernen, dass das trotzdem keine verschwendeten Tage für mich sind. Heute weiß ich: Ein guter Tag ist ein Tag an dem ich mit mir zufrieden bin – unabhängig von meiner Leistung!“

picture showing the portrait of Sabrina Lorenz

Die Corona-Zeit stellt im Rahmen von Sabrinas ganz persönlichem Videospiel des Lebens eine extra Challenge dar, denn ihre Krankheit ist fortschreitend: „Ich weiß nicht, ob ich noch genug Zeit habe zu leben, wenn das alles vorbei ist.“
Im ersten Lockdown fühlte sich zunächst alles gut an: weil alle Treffen und Geschäftstermine per Videokonferenz abgehalten wurden, entfielen für Sabrina längere Reisen, bei denen ihr Energiebalken üblicherweise schnell absinkt. Im Homeoffice kann Sabrina in Sachen Kraft-Ausdauer auf Augenhöhe mit den anderen diskutieren. Eine gute Erfahrung! „Aber als im Sommer 2020 alle wieder zusammenkommen durften, hatte ich das Gefühl, einfach vergessen zu werden“, erinnert sie sich. Sabrina gehört zu den Hochrisikopatient*innen und musste sich weiterhin abschotten. „Meine Freund*innen konnten ihr Leben wieder leben. Ich habe mich ein ganzes Jahr lang isoliert.“ Erst seit sie doppelt geimpft ist, wagt sie wieder Begegnungen mit anderen.
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Sabrina weiß nicht erst seit dieser Zeit wie es sich anfühlt, ausgeschlossen zu werden. Darum hat sie angefangen, für Inklusion einzutreten und sagt: „Menschen mit Behinderung stoßen immer noch auf Barrieren im Alltag, an nicht barrierefreien Orten und in zwischenmenschlichen Interaktionen. In unserer Gesellschaft wird nicht gut vermittelt, wie wir mit behinderten Menschen oder anderen marginalisierten Gruppen umgehen. Ich will vermitteln, dass die Krankheit ein Teil von mir ist, und ich will als vollständiger Mensch gesehen werden.“

Darum setzt sich Sabrina für die Aufklärung zu Themen der Teilhabe und Inklusion ein. Auch hier motiviert sie eine eigene Erfahrung: Nach dem Abitur hatte Sabrina sich dazu entscheiden, Medizin zu studieren. Einige Dozenten rieten ab oder machten klar, dass dieser Weg für eine chronisch kranke junge Frau schwer werden könnte. Zu schwer.

„Ein Arzt sagte, dass ich mir noch ein paar schöne Jahre machen soll, weil ich schon tot sein werde, bevor ich meine Zulassung bekäme. Aber ich wollte mein Leben nicht von einer potenziellen Lebensverkürzung abhängig machen.“

Nach fünf Semestern schließlich brach Sabrina tatsächlich selbstbestimmt ihr Studium ab, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtert. Und wieder nahm sie eine wichtige Erkenntnis mit: „Ich habe hier nicht versagt, sondern eine bewusste Entscheidung getroffen.“ Als Studentin der Sozialen Arbeit ist sie heute auch selbst als Dozentin tätig und vermittelt Medizinstudierenden mit einer guten Portion Humor und Schlagfertigkeit, wie gute Patientenkommunikation gelingt. Und wieder hilft ihr dabei die eigene Geschichte.

In ihrem Kinderkardiologen hatte Sabrina 18 Jahre lang einen zuverlässigen Ansprechpartner. Seit dieser Zeit ist sie im Bundesverband Herzkranke Kinder e.V. engagiert. Als sie erwachsen wurde, machte sie sich auf die Suche nach einer neuen Begleitung. „Da meine Erkrankung selten und gleichzeitig sehr komplex ist, werde ich jetzt von vielen verschiedenen Ärzt*innen betreut. Und dabei muss ich mich immer wieder erklären…“.

Regelmäßig durchläuft Sabrina eine ganze Reihe verschiedener Untersuchungen und Tests: MRT, CT, EKG, Sonografie, Blutuntersuchungen, Ergometrie, Belastungstests, Sauerstoffsättigungsüberprüfungen, Lungenfunktionstests. Alle sechs Monate geht sie zur Kardiologin, die Schmerzärztin sieht sie jeden Monat, alle zwei Monate den Lungenfacharzt. Und mit einem Satz von Sabrina wird klar, an welcher Stelle dieses vielfältige System Mängel hat: „Meine Teams sind in mehreren Städten aber niemand koordiniert sie für mich. Ich weiß, dass ich die Expertin für meinen Körper bin und hier viele Transferleistungen selbst erbringen muss“.
Zahlreiche Menschen in Deutschland – Erwachsene und Kinder – sind von Herzfehlern betroffen. Der Bundesverband Herzkranke Kinder e.V. (BVHK) unterstützt, informiert und klärt sie, ihre Angehörigen und ihr Umfeld auf.
Bundesverband Herzkranke Kinder

picture showing the portrait of Sabrina Lorenz

Die Wissensvermittlung zwischen den verschiedenen Disziplinen ist für Sabrina inzwischen zum jump-and-run-Spiel geworden: „Bei mir ist es schwer einzuschätzen, wann etwas um Leben und Tod geht. Wenn ein Zustand von meiner Erfahrung abweicht, bin ich diejenige, die schnell entscheiden muss. Jump-and-run heißt dann für Sabrina: „Zuerst prüfe ich alle Parameter, die ich messen kann, um herauszufinden, ob mein Problem eine kardiologische, neurologische oder pulmologische Ursache haben könnte. Dann rufe ich meine Freunde an, damit jemand da ist, falls ich umkippe. Anschließend telefoniere ich meine Ärzte ab und wir entscheiden, was ich nun konkret unternehme. Ich glaube, dass mich eine telemedizinische Betreuung in diesen Situationen entlasten würde.“ Und auch ein nahtloser Datenaustausch zwischen den Disziplinen wäre für Sabrina ein Gewinn: „Dann könnte ich mich im Notfall auf Fakten verlassen und nicht nur auf mein Gefühl.“

Telemedizin und Heimüberwachung sind Technologien, die Pflegeteams mit Patienten verbinden, um deren Selbstmanagement zu verbessern.
Gefragt nach den Plänen für die Zukunft bringt Sabrina Fakten und Gefühle zusammen: „Ich habe eine Todo-Liste offen und weiß nicht, ob ich das alles schaffe. Ich bin mittlerweile auf mehr Organe als nur ein neues Herz angewiesen und setze mich dafür ein, dass das Thema Organspende in die Mitte unserer Gesellschaft gerückt wird. Ich möchte mein Studium beenden. Ich würde gerne international als Speakerin arbeiten und etwas von der Welt sehen. Zwar sehe ich meinen Körper immer mehr verschwinden – aber meine Gedanken und Gefühle bleiben. Also schätze ich die kleinen Momente, freue mich auf die Geburtstagsparty mit meinen Freundinnen. Uns allen ist dieses eine Leben gegeben und so gilt es, daraus ein glückliches zu machen.“
Alles Gute für Dich, liebe Sabrina und danke für dieses starke Interview!
Dein Siemens Healthineers Redaktions-Team

(Sabrina Lorenz erhält finanzielle Unterstützung von Siemens Healthineers für diese Kooperation)

Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.