Bildgebung

Anatomieunterricht mit Cinematic Anatomy

Eine österreichische Universität hebt den Anatomieunterricht auf die nächste Stufe. Zugleich spart diese Methode langfristig Geld und Ressourcen.

6min
Lena Stauber
Veröffentlicht am September 13, 2022

Wer schon einmal ein medizinisches Lehrbuch zur Hand genommen und versucht hat, die anatomischen Abbildungen darin zu verstehen, weiß, dass die medizinische Lehre äußerst komplex ist ‒ doch Technologie kann helfen. Cinematic Anatomy1 ist eine immersive Anwendung, die Medizinstudierenden, Mediziner*innen und Patient*innen hilft, den menschlichen Körper besser zu verstehen.

An einer österreichischen Universität lernen Studierende Anatomie in stereoskopischem 3D ‒ dank eines vom Ars Electronica Futurelab entwickelten Raums, dem sogenannten medSPACE-Hörsaal der Johannes Kepler Universität (JKU) in Linz. Dozent*innen wie Prof. Dr. med. Franz Fellner, Leiter der Radiologie am Kepler Universitätsklinikum, können hier die menschliche Anatomie in Bildern darstellen, die von Fotos kaum zu unterscheiden sind. Ermöglicht werden diese virtuellen Ausflüge in den menschlichen Körper durch Cinematic Anatomy, eine auf Cinematic Rendering basierende Anwendung.
Cinematic Anatom, an application based on Cinematic Rendering
3D-Renderings werden bereits in der Bildgebung eingesetzt. Die als Volume Rendering bekannte Standardmethode hierfür ist in der Filmindustrie gängig. Beim Cinematic Rendering wird Licht aus einer virtuellen Quelle durch einen Bilddatensatz geleitet, um die Transparenz und die Farbeigenschaften des Gewebes zu simulieren und die Illusion eines dreidimensionalen Objekts zu erzeugen. Zum Einsatz kommt dabei ein komplexes Beleuchtungsmodell, das viele der Lichtstreuungs-, Absorptions- und Schattierungseffekte simuliert, die man beim Betrachten von Gegenständen in der alltäglichen Umgebung sieht [1]. Dies macht die Bilder äußerst realistisch, was beispielsweise die Planung von Operationen vereinfacht und ein besseres Verständnis der Anatomie vermittelt.
Cinematic Anatomy

Cinematic Anatomy wurde in Zusammenarbeit zwischen der JKU und Siemens Healthineers entwickelt. Ziel war es, den Anatomieunterricht an medizinischen Fakultäten und Krankenhäusern auf eine neue Ebene zu heben. Derzeit wird es weltweit einzigartig in Linz eingesetzt. Bei der Planung des Neubaus deren Medizinischer Fakultät entstand die Idee, Anatomie virtuell zu unterrichten, um langfristig Kosten und Ressourcen zu sparen. Die für die Präparation von Leichen nötige Infrastruktur ist teuer und nimmt viel Platz in Anspruch.

Cinematic Anatomy verfügt über eine Funktion namens Stereoview, mit dem sich die fotorealistischen Renderings mit einer 3D-Brille dreidimensional betrachten lassen. Fellner, der sowohl an der Zusammenarbeit als auch über mehrere Jahre hinweg an der Forschung beteiligt war, ist von den Möglichkeiten begeistert: „Cinematic Anatomy ist eine fantastische Technologie, die unglaublich, gestochen scharfe Bilder der menschlichen Anatomie erzeugt. Es ist wie eine filmische Tour durch den Körper. Es handelt sich um echte Schichtanatomie, die an echten Körpern studiert wird, nicht in simulierter Realität, wie es bei Computergrafikprogrammen der Fall ist.“
Der Nutzen geht auch über die medizinische Lehre hinaus: „Die Patient*innen selbst profitieren von Cinematic Anatomy, da die 3D-Visualisierung viel leichter zu verstehen ist als herkömmliche CT- oder MRT-Bilder. Und es ist natürlich immer von Vorteil, wenn die behandelnden Ärzt*innen bestmöglich geschult sind“, sagt Andrea Hofbauer, die als Collaboration Managerin bei Siemens Healthineers maßgeblich an der Entwicklung des Prototyps Cinematic Anatomy in Princeton, USA, beteiligt war.

Andrea Hofbauer, Collaboration Manager at Siemens Healthineers, Princeton, USA

Cinematic Anatomy virtualisiert die verschiedenen Strukturen des Körpers außerdem auch durch spezielle Windowing-Tools, die kontrastreiche Strukturen wie Knochen und mit Kontrastmittel angereicherte Gefäße von weichem Gewebe trennen. Mit Clip-Ebenen und Carve- und Crop-Tools können Strukturen von Interesse wie bei einer virtuellen Sektion segmentiert werden.
Cinematic Anatomy ersetzt jedoch nicht die praktische Arbeit am menschlichen Körper im Seziersaal. Die Linzer Medizinstudent*innen müssen nach wie vor lernen, echte Körper zu sezieren. Das tun sie in einem vierwöchigen Kurs in Graz. Hinzu kommen mehrere Sitzungen des neuen Anatomiekurses mit Cinematic Anatomy-Bildern. Die 3D-Bilder sind außerordentlich hilfreich, weil sie eine anschauliche Darstellung des menschlichen Körpers bieten, mit der sich die Sektion detailliert planen lässt.
Die neue Anwendung macht die Anatomievorlesungen auch nachhaltiger und moderner. „Wir können unsere Bilder nicht nur vergrößern, sondern auch verschieben, drehen und virtuell in die komplexe 3D-Anatomie hineinschneiden, was das Verständnis erheblich erleichtert. Außerdem ist das ein zerstörungsfreier Prozess. Was wir von einer Leiche abschneiden, ist für immer weg, das passiert uns in der virtuellen Anatomie nicht“, erklärt Fellner und fügt hinzu, dass „der Betrachter eine ganz andere Beziehung zu den Bildern hat, wenn er weiß, dass es sich um einen lebenden Menschen handelt.“

Nominated for the 2017 German Future Prize: Professor Franz Fellner, MD

Für die Zukunft ist geplant, Cinematic Anatomy mit Augmented Reality zu kombinieren und eine Cinematic Anatomy-Community zu entwickeln, um eine Content-Bibliothek mit einem vollständigen digitalen Atlas der menschlichen Anatomie aufzubauen. Professor Fellner ist der Ansicht: „Das ist erst der Anfang. Das hat unglaubliches Potenzial.“

Von Lena Stauber

Lena Stauber ist Redakteurin in der Unternehmenskommunikation bei Siemens Healthineers. Das Team ist spezialisiert auf Themen rund um Gesundheit, Medizintechnik, Krankheitsbilder und Digitalisierung.