Künstliche Intelligenz

„KI-unterstützte Software gibt uns mehr Selbstvertrauen in der Krebsbehandlung“

In Zagreb ermöglicht eine Klinik mit 100 Mitarbeitenden Krebspatient*innen aus der ganzen Region eine Überlebenschance. KI-Lösungen leisten wertvolle Unterstützung.
Meike Feder
Veröffentlicht am November 27, 2023

„Das Wichtigste an unserer Arbeit, ist die Läsion zu finden. Der größte Fehler wäre, gar nicht erst alle Läsionen zu finden“, erklärt Dr. Ivo Pedišić, Chefradiologe der Klinik Radiochirurgia Zagreb, einem Krankenhaus, das auf die Diagnose und Behandlung von Krebserkrankungen spezialisiert ist. Er betrachtet klinische Bilder eines Patienten, die auf einer großen Leinwand gezeigt werden. Um ihn herum sitzen seine Kollegen und Kolleginnen und machen sich ebenfalls mit dem Fall vertraut. Im Tumorboard besprechen sie bis zu 3,5 Stunden täglich, wie sie ihren Krebspatient*innen am besten helfen können.

„Im Tumorboard entscheiden wir, ob wir weitere diagnostische Bilder oder Tests benötigen, um den individuellen Therapieplan der Patientinnen und Patienten festzulegen“, erläutert Domagoj Kosmina, leitender Physiker der Klinik. „In unserem Haus kombinieren wir standardmäßig CT- und MR-Bilder, um den Gesundheitszustand der Patient*innen wirklich zu erkennen und die bestmögliche Therapie vorzubereiten.“

Die Suche nach dem Krebs ist die erste wichtige Aufgabe der Expert*innen. „Zum Glück hilft uns unsere KI-gestützte Software, die Läsionen zu finden ‒ so können wir mit größerer Sicherheit beurteilen, ob eine Läsion vorhanden ist oder nicht“, ergänzt Ivo Pedišić.

Ein Tumorboard ist ein Gremium aus Expert*innen, das Patient*innen und ihre diagnostischen Befunde untersucht. Das Gremium bündelt alle Kompetenzen eines onkologischen Zentrums: Erfahrene Ärzt*innen besprechen den Krankheitsverlauf, die Röntgenbilder und die Untersuchungsergebnisse und erarbeiten anschließend einen Therapievorschlag für die Erkrankten. Dem Gremium können neben Onkologie- und Radiologie- auch Chirurgie-Expert*innen anderer Fachrichtungen angehören.

Obere Reihe, von links: Jelena Hajredini, Dr. Hrvoje Kaučić, Dr. Ivo Pedišić Untere Reihe, von links: Domagoj Kosmina, Vanda Leipold, Ivica Mažuranić

„Früher bin ich manchmal abends nach Hause gegangen und habe mich dann auf meiner Couch gefragt: Habe ich in diesem oder jenem Fall Krebs übersehen?“, sagt Ivo Pedišić. „Jetzt weiß ich, wenn der Computer auch nichts gesehen hat, ist da wahrscheinlich auch nichts.“ Sein Kollege Prof. Ivica Mažuranić, Radiologe und Lungenfacharzt, stimmt ihm zu: „Für mich ist die Qualität der Befunde der wichtigste Vorteil des AI-Rad Companion. Er bringt uns auch eine große Zeitersparnis, aber mir persönlich ist das weniger wichtig. Für mich zählt die Qualität.“ Radiochirurgia nutzt den AI-Rad Companion Chest CT, Prostate MR und Organs RT.

Die klinischen Bilder auf dem großen Bildschirm an der Wand zeigen, wie mehrere Tumore den linken Lungenflügel des Patienten fast komplett ausfüllen. Nach dem Blick darauf sehen sich alle Anwesenden den Arztbrief, seine Laborwerte und klinische Historie an. „Wir sind zu 100 Prozent digital. Wir können jederzeit alle Testergebnisse, klinischen Bilder und Termine der Patient*innen einsehen“, erläutert Domogoj Kosmina das Cancer Information System der Klinik. Hierfür setzt Radiochirurgia Zagreb seit Jahren das ARIA Oncology Information System von Varian ein.

Einige der Patient*innen haben bereits an anderen Kliniken die Diagnose Krebs erhalten und wurden an die Radiochirurgia überwiesen. „Wir arbeiten sehr gut mit den öffentlichen Einrichtungen zusammen“, erläutert Dr. Hrvoje Kaučić, Radioonkologe und Chefarzt für Radiochirurgie und Strahlentherapie. Denn Radiochirurgia Zagreb ist seit seiner Gründung im Jahr 2017 die einzige Einrichtung in ganz Kroatien, die Radiochirurgie am Körper durchführt.

„Das Wort Radiochirurgie ist eine Kombination aus Radiotherapie, d. h. der Bestrahlung des Krebstumors, und Chirurgie, da die Strahlung präzise auf den Tumor gerichtet ist“, so Hrvoje Kaučić. „Es ist eine Art Ablation mit Bestrahlung. Im Vergleich zur Strahlentherapie mit mehreren Sitzungen erfolgt Radiochirurgie in der Regel in einer einzigen Sitzung mit einer sehr hohen Strahlendosis.“ 

Im Tumorboard sprechen die Expert*innen ihre Empfehlungen für die einzelnen Patient*innen aus. Das Meeting endet mit einem Behandlungsvorschlag: Das kann eine Radiochirurgie sein, eine Radiotherapie, eine klassische Operation, Chemotherapie oder eine Kombination verschiedener Ansätze. „Wir betrachten jede und jeden Patienten individuell, um die beste Behandlungsoption zu finden“, sagt Domogoj Kosmina.

So auch den Lungenkrebspatienten, dessen klinische Bilder eben von den Board-Mitgliedern begutachtet wurden. Ihm wird als Therapie eine Radiochirurgie empfohlen: „Er hatte Glück, dass er diese Möglichkeit hatte, denn üblicherweise hätte der gesamte linke Lungenflügel entfernt werden müssen. Mit dem präzisen Ansatz der Radiochirurgie hatten wir nun die Chance, seine Lunge zu erhalten.“

Nun kann begonnen werden, die Radiochirurgie genauer zu planen. Auch hier kommt eine KI-gestützte Lösung zum Einsatz: Autocontouring, das heißt die farbliche Umrandung der Organe in der Umgebung des Tumors. In der Regel geschieht dies manuell und die Spezialist*innen müssen jeden einzelnen Umriss selbst zeichnen. Es handelt sich daher um eine sehr zeitaufwändige (aber wesentliche) Aufgabe in der Behandlungsplanung. „Die automatische Konturierung erleichtert und beschleunigt unsere Arbeit. Wir nutzen die Rechnerleistung, um Routinearbeiten zu erledigen“, erläutert Vanda Leipold, Physikerin und Expertin für die Softwarelösung AI-Rad Companion Organs RT.

„Wir nutzen standardmäßig eine unterstützende KI-Lösung zur Aufbereitung der klinischen Bilder und sparen damit 80 Prozent der früher benötigten Zeit. Unsere Ärzt*innen kontrollieren immer die Befunde und müssen einige davon auch korrigieren, aber es ist eine große Unterstützung. Wir können so mehr Behandlungspläne am Tag erstellen“, sagt Vanda Leipold und ergänzt: „Die Entscheidungen werden von Ärzt*innen getroffen. Doch dank KI-Unterstützung kann meiner Einschätzung nach eine ärztliche Kraft die Arbeit dreier Ärzt*innen leisten, die diese Lösung nicht zur Verfügung haben.“ Das bedeutet auch, dass mehr Patient*innen früher mit der Behandlung beginnen können.

Jährlich werden in der Radiochirurgia Zagreb 2.000 radiochirurgische Behandlungen und 600 klassische Krebsoperationen durchgeführt, dazu 22.000 begleitende diagnostische Bildgebungsuntersuchungen – in einem Haus mit weniger als 100 Vollzeitkräften. „Im Vergleich zur klassischen Chirurgie ist bei der Radiochirurgie die diagnostische Bildgebung viel wichtiger. Da wir den Körper nicht öffnen, sehen wir die zu behandelnde Läsion nicht unmittelbar. Klinische Bilder sind unser Blick ins Innere des Körpers“, erklärt Ivo Pedišić.

Gleichzeitig ist es aufgrund der hohen Strahlendosis besonders wichtig, die Patient*innen korrekt zu positionieren. Nervös macht das die Verantwortlichen aber nicht, sagt Strahlentherapeutin Jelena Hajredini: „Bei der Positionierung für die Radiochirurgie bin ich selbstbewusst, weil das System mir umfangreiche technische Unterstützung bietet.“

JRadiation therapist Jelena Hajredini standing in front of a Varian Edge linac, explains the procedure to a patient.

Nach ihrer Erfahrung sind auch die Patient*innen sehr dankbar für die neuen Lösungen. „Sie haben manchmal Angst, wenn ich den Kontrollraum verlassen muss. Dann sagen sie mir, dass der Computer ja auf sie aufpasst“, erzählt sie. Entspannt und zugewandt kann sie sich Menschen in einer sehr schwierigen Lebenssituation widmen. Sie erklärt, wie Untersuchungen oder Behandlungen ablaufen und ist für sie da. „Die Patient*innen sind das Wichtigste an meinem Job, ich bin gerne für sie da.“

Einige sieht sie über einen längeren Zeitraum immer wieder. Der Lungenkrebspatient musste sich im Verlauf eines Jahres mehrfach einer Radiochirurgie unterziehen. Insgesamt wurden 23 Tumore komplett entfernt. Seit einem Jahr ist er nun krebsfrei, seine Lunge wieder voll funktionsfähig.

Radiochirurgia Zagreb sieht sich aufgrund der vielen positiven Fälle daher in seiner Strategie bestätigt, sagt Domagoj Kosmina: „Unser Erfolgsrezept besteht meiner Ansicht darin, dass wir neue Lösungen anstreben und innovativ denken.“

Seit 2017 behandelt das Team von Radiochirurgia Zagreb lokal fortgeschrittene Bauchspeicheldrüsenkarzinoma radiochirurgisch mit extrakraniellem Calypso-Tracking von Varian und AlignRT von VisionRT. In einer Studie untersuchten sie die potenziell positiven Auswirkungen einer lokalen Dosiseskalation während der stereotaktischen ablativen Strahlentherapie (genannt Radiochirurgie) unter Verwendung eines intrafraktionierten fiducial-basierten Bewegungsmanagements auf die klinischen Ergebnisse. Dieser Ansatz führte zu einer sehr günstigen einjährigen lokalen Tumorkontrolle von 100 Prozent und einem medianen Gesamtüberleben von 24 Monaten, ohne Toxizitäten des Grades 2 oder höher. Die Ergebnisse wurden 2022 in der Fachzeitschrift ‚Cancers‘ veröffentlicht.


Von Meike Feder

Meike Feder ist Redakteurin bei Siemens Healthineers. Ihr Fokus liegt auf Themen rund um die Patient*innenversorgung.