Künstliche Intelligenz

Wenn COVID-19 zuschlägt, lernen wir aus den Spuren

Der führende KI-Wissenschaftler Bogdan Georgescu und sein Team entwickelten einen Algorithmus, der Klinikern künftig bei der Beurteilung hinsichtlich Schweregrad und Verlauf von COVID-19 von großem Nutzen sein könnte.

8min
Andrea Lutz
Veröffentlicht am February 11, 2021

Auf den Spuren von COVID-19: Gemeinsam mit Kollegen aus aller Welt entwickelte ein Team einen Algorithmus, der dabei helfen soll, Veränderungen im Lungengewebe zu beurteilen. Eine Geschichte über einen wichtigen Meilenstein in Zeiten der Pandemie.

Eine der größten Herausforderungen in der Radiologie ist der Umgang mit den großen Mengen an hochkomplexen Daten, die bei Untersuchungen anfallen. Vergleichsweise wenige Spezialisten können die Daten in zeitaufwendigen Prozessen auswerten. Daher gewinnen Anwendungen mit künstlicher Intelligenz (KI) zunehmend an Bedeutung: Schon heute können aufgabenspezifische KI-Lösungen Ärzten helfen, Muster und systematische Phänomene während Untersuchungen zu erkennen.

Eine KI ist darauf ausgelegt, menschliche Entscheidungsstrukturen zu imitieren. Dabei befasst sich eine sogenannte „schwache KI“ mit der Problemlösung spezifischer Aufgaben, während eine „starke KI“ als allgemeine Intelligenz gilt, die der des Menschen ähnelt. Alle heute existierenden KI-Systeme fallen unter die Kategorie der „schwachen KI“.


Zunächst erhält ein KI-gestütztes Computersystem eine bestimmte Aufgabe, deren Ausführung anhand verschiedener Beispiele trainiert werden muss. Das System analysiert die Beispiele im Laufe des Trainings und entwickelt auf dieser Basis ein Modell, um ähnliche Daten oder Aufgaben in Zukunft auf die gleiche Weise zu bearbeiten. All das macht KI jedoch nicht ohne Vorarbeit - es bedarf einer detaillierten Spezifikation des wissenschaftlichen Problems, das hinter einer klinischen Fragestellung steht, einer qualitativ hochwertigen Datensammlung und -annotation sowie eines guten KI-Algorithmus-Designs und -Trainings. Der eigentliche Schlüssel zur KI ist die menschliche Expertise: Erfahrene klinische Radiologen und Techniker annotieren Millionen von Bildern, bevor ein Algorithmus zum Training bereit ist. Das passiert beispielsweise, indem mehrere Experten per Mausklick definieren, wie ein Lungenemphysem oder ein Lungenknoten im klinischen Bild aussieht. 

 Im Fall von COVID-19 werden abnormale Regionen, die eine Atemwegserkrankung zeigen, im CT-Bild lokalisiert und abgegrenzt. Sobald eine abnorme Region in einem Bild erkannt wurde, kann der Computer aus den Beispielen lernen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf neue Daten anwenden. Die Qualität der Annotationen und Daten hat dabei einen großen Einfluss auf die Qualität des Endprodukts.

Bogdan Georgescu ist ein Experte für KI-Technologien. Gemeinsam mit einem internationalen Team entwickelt er Algorithmus-Prototypen, welche die Analyse von radiologischen Mustern in der Lunge beschleunigen sollen. In diesem Fall betrifft das Spuren, die durch COVID-19 verursacht werden könnten.
AI scientist Bogdan Georgescu
Bei Patienten mit einem schweren Verlauf von COVID-19 zeigt ein CT-Scan oftmals Anomalien in der Lunge. Das Ausmaß dieser Anomalien scheint in direktem Zusammenhang mit dem Schweregrad der Erkrankung zu stehen – deshalb kann die CT-Bildgebung wertvolle Erkenntnisse liefern. Ein CT-Scan des Brustkorbs oder Thorax zeigt jedoch nicht nur das Schweregrad der Lungenerkrankung, sondern kann auch Aufschluss darüber geben, wie ein Patient auf verschiedene Therapien anspricht und wie seine Genesung voranschreitet.

Die häufigsten Anomalien sind Veränderungen in der Lunge in Form von Lungenbläschen, die Flüssigkeit oder Gewebe enthalten und den Gasaustausch verhindern.


Image of the lung
Die Welt befindet sich derzeit im Ausnahmezustand, überall schränken Regierungen den persönlichen Kontakt ein. Das hindert Forscher rund um den Globus jedoch nicht daran, neue Methoden zu erproben und Ideen zu entwickeln. Siemens Healthineers bildete deshalb ein internationales und interdisziplinäres Team aus KI-Wissenschaftlern aus den USA, Softwareentwicklern aus Indien, CT-Produkt- sowie Forschungs- und Entwicklungsexperten aus Deutschland und Medizinern aus aller Welt - und brachte sie an einem virtuellen Konferenztisch zusammen, alle mit einem gemeinsamen Ziel.
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Im Februar 2020 verbreitete sich SARS-CoV-2 wie ein Lauffeuer über die ganze Welt. Schon in den ersten Tagen der Pandemie begannen Georgescu und sein Team zu untersuchen, wie künstliche Intelligenz Klinikern bei der Bekämpfung von COVID-19 durch schnellere Diagnose, Kategorisierung und Planung von Behandlungspfaden unterstützen könnte. 

Ausgestattet mit führender Expertise in der Entwicklung von KI-Prototypen für die medizinische Bildanalyse, nahm sich das Team gemeinsam mit klinischen Experten der Herausforderung an. Georgescu erklärt: "Unsere Kernkompetenz liegt in der Bereitstellung von KI-basierten Lösungen zur Analyse von klinischen Bildern - also haben wir ein Expertenteam zusammengestellt, um herauszufinden, ob und wie wir mit diesem Wissen einen Beitrag leisten können." 

Teammitglied Thomas Re, ein erfahrener Radiologe, erinnert sich noch sehr gut an die Situation: "Wie für alle war es ein extrem intensiver Moment. Da ich meine Ausbildung zum Radiologen in Mailand, Italien, absolviert hatte, einem Ort, der kurz vor dem Ausbruch in den USA besonders von COVID-19-Infektionen und Todesfällen betroffen war und von direkt betroffenen Freunden und Kollegen gehört hatte, war mir der Ernst der Lage besonders bewusst. Ich sah in meiner Arbeit am KI COVID-19-Projekt die beste Möglichkeit, in Zukunft eine Lösung anzubieten, die in dieser Krisenzeit helfen könnte. Erreichen wollte ich das indem ich an der Verbesserung der COVID-19-Diagnosetools für Kliniker arbeite, die an der Front der Pandemie stehen. Meine Aufgabe als Radiologe war es, Bildgebungsdaten zu annotieren, um das KI-System darauf zu "trainieren", COVID-19-Krankheitsmuster in Brust-CT-Daten zu erkennen. Für dieses Projekt Ressourcen aus der ganzen Welt zusammen zu führen und Teil eines solchen Teams zu sein, war wirklich erstaunlich. Mein Beitrag wäre ohne die Unterstützung anderer lokaler und internationaler Teammitglieder nicht möglich gewesen; insbesondere die meiner Radiologie-Kollegin Eileen Krieg, MD in New Jersey, des Ingenieurs Amit Vaze und seines Teams in Indien sowie des Ingenieurs Guillaume Chabin und seines Datenmanagement-Teams in Paris."



Aufgrund der weltweiten Pandemie beschränkte sich das Team auf die virtuelle Zusammenarbeit in Videokonferenzen und nutzte interaktive Plattformen und Teamworking-Tools. "Jeder hatte immer den gleichen Wissensstand", erklärt Georgescu. Seine Kollegin Shikha Chaganti erinnert sich: "Wir haben alle mit einem Lächeln im Gesicht gearbeitet. Ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl." Das war die beste Grundlage, um die Herausforderung zu meistern, einen funktionierenden Prototyp in unglaublicher Geschwindigkeit zu entwickeln, wie der Radiologe Abishek Balachandran bestätigt: "Es war fantastisch, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Wenn man bedenkt, dass es in einer Zeit einer beispiellosen Krise stattfand, sind wir stolz darauf, dass unser Team selbst in dieser schwierigen Zeit in der Lage war, sich zu steigern." In nur drei Wochen war die erste Version des Prototyps fertig. Er sollte dazu dienen, auffällige Gewebestrukturen in der Lunge auf einem CT-Scan zu erkennen und zu quantifizieren.

Um die Auswirkungen von COVID-19 auf die Lunge zu erforschen, brauchte das KI-Team verlässliche Vergleichswerte als solide Basis für die weitere Arbeit. "Wenn man so ein Projekt startet, braucht man von Anfang an verlässliche Daten und Ratschläge von klinischen Experten. Erst dann können wir den eigentlichen Prototyp entwickeln. Dazu braucht man effektive Algorithmen und eine leistungsfähige Computerinfrastruktur. Und schließlich muss es möglich sein, das neue Konzept mehreren Partnern in einem klinischen Umfeld zur Verfügung zu stellen, damit sie die Praxistauglichkeit testen können", erklärt Georgescu. 

Daher arbeiteten die KI-Wissenschaftler und -Ingenieure Hand in Hand mit engagierten klinischen Partnern, um ein maschinelles Lernmodell zu erstellen, zu trainieren und einzusetzen. "Wir haben es geschafft, über Kontinente hinweg effektiv zu arbeiten und zu kooperieren, um eine effiziente Datenverarbeitungspipeline zu haben", sagt Georgescu. 

Pneumonia-analysis-research-results

Als Referenzwerte zog sein Team die Daten von COVID-19-Fällen und weitere Studien von rund 18 kooperierenden Instituten in den USA, Kanada und Europa heran - darunter das Foch Hospital (Frankreich), Northwell Health (USA) und Houston Methodist (USA), das Universitätsklinikum Basel (Schweiz) und das Vancouver General Hospital (Kanada).

An all diesen Standorten wurden die gleichen Maße von Läsionen, Lungen und Lappen erfasst, um den Algorithmus mit relevanten Daten zu "füttern".

Lungenanomalien, für die das SARS-CoV-2-Virus verantwortlich sein könnte, werden nun automatisch identifiziert und nach ihrem Ausmaß klassifiziert. Dazu analysiert ein quantifizierender Algorithmus systematisch das CT-Bild des Brustkorbs eines Patienten und sucht nach Trübungen, also Verhärtungen im Gewebe der Lungenflügel. Werden solche Läsionen erkannt, errechnet der Algorithmus die Dichte, mit der sie in der Lunge vorkommen. Diese Art der Vorselektion beschleunigt den klinischen Prozess - und jede eingesparte Minute verschafft wertvolle Zeit, um schnell die richtige Behandlung einzuleiten. Schließlich wird eine Übereinstimmung mit den tatsächlichen Symptomen des Patienten angestrebt, was es zunehmend einfacher macht, den Verlauf der Krankheit zu verfolgen.

Ein Quantifizierungsalgorithmus analysiert die Bilder und sucht nach Trübungen, um den Schweregrad und die Region des betroffenen Gewebes darzustellen - ohne den Befund der zugrunde liegenden Erkrankung zuzuordnen.




Der Prozess, der von Georgescu und seinem Team in Gang gesetzt wurde, könnte hinsichtlich seiner Vorgehensweise, seines Tempos und seiner Leitprinzipien ein Modell für viele zukünftige Projekte werden. Denn die Pandemie ist nicht alles, was sich in den letzten Monaten verbreitet hat: Auch Pioniergeist, grenzüberschreitende Projektarbeit und intelligente Kollaborationen sind entstanden. Der Algorithmus ist somit nur eines von vielen Ergebnissen - und es hat sich gezeigt, dass auch im Kampf gegen COVID-19 harte Arbeit und Kreativität ansteckend sind.
Der Prototyp wurde entwickelt, um automatisch hyperdichte Lungenregionen zu identifizieren und zu quantifizieren, um den betroffenen Bereich zu erkennen und dann den Schweregrad des entzündeten Gewebes zu bewerten. Diese automatisierte Quantifizierung von Anomalien im Zusammenhang mit COVID-19 aus kontrastlosen Thorax-CT-Scans könnte Klinikern helfen, die Krankheit zu bewerten und ihren Schweregrad und Verlauf einzuschätzen. Die Genauigkeit, mit der COVID-19 auf CT-Bildern von anderen Arten von Lungenerkrankungen unterschieden werden kann, variiert jedoch noch. 

COVID-19 kann sich ähnlich wie andere Atemwegsinfektionen, wie z. B. Influenza, manifestieren, was die Patiententriagierung und Diagnose zu einer Herausforderung machen kann. Daher ist es wichtig, COVID-19-bedingte Lungenerkrankungen nicht nur von gesunden Lungen, sondern auch von anderen Arten von Lungenerkrankungen wie anderen Infektionen, Malignomen, interstitiellen Lungenerkrankungen und chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen unterscheiden zu können. Vor diesem Hintergrund bleiben eine Reihe grundlegender Fragen offen: Kann KI COVID-19 anhand von Thorax-CT-Scans automatisch erkennen? Wird ein KI-System bald so weit sein, dass es Radiologen bei der Unterscheidung zwischen COVID-19 und anderen Arten von Lungenentzündungen helfen kann? Und wie können wir eine breite Wirkung von KI erreichen, um den Kampf gegen COVID-19 zu beschleunigen? Ein engagiertes KI-Team arbeitet bereits an der Beantwortung dieser Fragen...


Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.