Neurologie

Weniger Leid durch mehr Bewusstsein

Schlaganfälle bei Kindern sind zwar selten, doch wenn sie auftreten, können sie verheerend sein. Sensibilisierung für das Thema und schnelles Handeln im Ernstfall können Leben retten und lebenslange Beeinträchtigungen verhindern.
5min
Peter Jaret
Veröffentlicht am 9. Mai 2022

Als die 14-jährige Zosia Wasylewski mit einem stechenden Schmerz in ihrem Bein aufwachte, hielt sie es für nichts Ernstes. Doch dann stürzte sie später am Vormittag beim Spielen in der Schule und konnte nicht mehr aufstehen. Da merkte sie, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. „Ein paar Leute halfen mir auf meinen Stuhl und ich versuchte, meine linke Hand auf dem Tisch zu halten, nur um sie irgendwo abzulegen, weil sie taub war und einfach herunterhing und ich sie nicht bewegen konnte“, erinnert sie sich in einem emotionalen Interview an ihren Schlaganfall (alle Videos im Artikel stehen auf Englisch zur Verfügung).

Schlaganfälle sind bei Kindern selten. Schätzungen zufolge betreffen sie 25 von 100.000 Neugeborenen und 12 von 100.000 Kindern unter 18 Jahren [1,2,3]. Doch wenn sie auftreten, können sie verheerend sein und manchmal zu lebenslangen Behinderungen oder sogar zum Tod führen. Ein Schlaganfall tritt auf, wenn die Blutzufuhr zum Gehirn unterbrochen wird, was zwei Hauptursachen haben kann: Ein arterieller ischämischer Schlaganfall (AIS) tritt auf, wenn ein Blutgerinnsel oder verengtes Gefäß die Blutzufuhr zum Gehirn drosselt oder blockiert. Schlaganfälle können aber auch durch intrakranielle Blutungen entstehen, wenn Blutgefäße im Gehirn platzen und so eine Gehirnblutung verursachen [1,4].

„Knapp die Hälfte der Schlaganfälle bei Kindern wird gar nicht oder nur verzögert diagnostiziert, weil sie so selten sind“, erklärt Dr. Justin Singer, Leiter für vaskuläre Neurochirurgie und des endovaskulären Programms der Spectrum Health Medical Group in Grand Rapids, Michigan, wo Zosia behandelt wurde. Als Zosia von der Schule in ein örtliches Krankenhaus gebracht wurde, gingen die Behandelnden dort nicht sofort von einem Schlaganfall aus. Glücklicherweise erkannte ein Assistent in der Notaufnahme die Symptome und Zosia wurde rasch in das Comprehensive Stroke Center bei Spectrum verlegt.

Diese Entscheidung hat ihr möglicherweise eine lebenslange Behinderung erspart, denn je länger sich Diagnose und Behandlung eines Schlaganfalls hinauszögern, desto größer wird die Gefahr einer irreversiblen Hirnschädigung.

Die Forschung hat mehrere Risikofaktoren für pädiatrische Schlaganfälle ermittelt, darunter angeborene Herzerkrankungen, Defekte in den hirnversorgenden Blutgefäßen und Blutgerinnungsstörungen. Ein weiterer wichtiger Risikofaktor ist die Erbkrankheit SCD (Sichelzellenkrankheit), bei der krankhaft veränderte Blutzellen das Risiko von Blutgerinnseln und Blutgefäßschäden erhöhen. SCD erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls um das 200-fache [1].
Laut Expert*innen könnte ein größeres Bewusstsein für das Risiko und die Anzeichen eines pädiatrischen Schlaganfalls die Auswirkungen verringern.

Bei Neugeborenen und Säuglingen umfassen die Symptome eines Schlaganfalls Krampfanfälle, extreme Schläfrigkeit oder die Tendenz, nur die rechte oder linke Körperhälfte zu benutzen. Bei Kindern unter 18 Jahren gehören zu den Frühwarnzeichen:

  • Schwäche, Taubheit oder Lähmungserscheinungen, meist auf nur einer Körperseite
  • Gangunsicherheit oder Bewegungsstörungen auf einer Körperseite
  • Undeutliches Sprechen oder Sprach- / Sprachverständnisstörungen
  • Heftige Kopfschmerzen
  • Starker Schwindel oder Koordinationsverlust
  • Ungewöhnliche Schläfrigkeit
  • Wiederholtes Erbrechen
  • Krampfanfälle

Um das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu schärfen, haben Expert*innen das englische Akronym F.A.S.T. entwickelt: Face (Gesichtslähmung), Arms (Lähmung der Arme), Speech (Sprachprobleme) und Time (sofortiges Handeln, denn bei einem Schlaganfall zählt jede Sekunde).

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Da andere Erkrankungen wie Hirntumore und Hirninfektionen ähnliche Symptome aufweisen können, ist eine eindeutige Schlaganfalldiagnose bei Kindern nach wie vor eine Herausforderung [1,6,7]. Zum Glück liefern moderne Bildgebungstechnologien schnell detaillierte Bilder des Gehirns und unterstützen die klinische Entscheidungsfindung, wenn jede Minute zählt.

Mit Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) lassen sich Anzeichen für ein Blutgerinnsel oder eine Gehirnblutung erkennen sowie auch andere Krankheiten besser ausschließen. Zur Feststellung der Ursache eines Schlaganfalls gibt es zusätzliche Tests wie ein Angiogramm (Röntgenaufnahmen nach Kontrastmittelinjektion in die Blutgefäße zur Darstellung von Anomalien), Herzultraschall und Bluttests zur Diagnose von Gerinnungsstörungen [1,4].

Der Grundsatz „Time is brain“ gilt sowohl für die Diagnose als auch für die Behandlung. Je schneller die dem Schlaganfall zugrunde liegende Ursache behandelt wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Hirngewebe geschädigt wird. Unmittelbares Behandlungsziel ist die Wiederherstellung der normalen Durchblutung des Gehirns. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen.

Zur Förderung der Durchblutung können blutverdünnende Medikamente und spezielle Vitamine verabreicht werden. Kinder mit SCD können Bluttransfusionen erhalten.

Spezielle Fachkräfte, genannt Neurointerventionisten, können einen minimalinvasiven Eingriff vornehmen, bei dem ein schmaler Katheterschlauch in die Oberschenkelarterie in der Leiste eingeführt und bis ins Gehirn vorgeschoben wird. Bei dieser mechanischen Thrombektomie wird entweder ein Absaugkatheter oder ein spezieller Stent Retriever in das Gefäß eingeführt, mit dem die Neurointerventionisten Blutgerinnsel entfernen und den Blutfluss zum Gehirn wiederherstellen können. In einigen Fällen lassen sich verletzte Gefäße verschließen. Diese Verfahren sind bei Säuglingen und Kindern besonders schwierig, da ihre Blutgefäße viel kleiner sind als die von Erwachsenen.

Einige Schlaganfälle erfordern einen chirurgischen Eingriff. Zum Beispiel kann ein Loch gebohrt werden, um Blut aus dem Gehirn abfließen zu lassen, ein Aneurysma durch „Clipping“ abgetrennt oder die Schädeldecke zur Druckentlastung geöffnet werden.

Das Risiko eines weiteren Schlaganfalls ist in den ersten 30 Tagen nach dem ersten Schlaganfall am höchsten. Daher stehen junge Patient*innen in dieser Zeit unter enger ärztlicher Kontrolle. Einige Kinder nehmen mehrere Jahre lang blutverdünnende Medikamente wie Aspirin ein, um ein erneutes Auftreten zu verhindern [1,4].

Die langfristigen Aussichten eines Kindes hängen von vielen Faktoren ab, u. a. von der Größe des Kerninfarkts und der Penumbra, dem geschädigten, aber noch lebensfähigen Hirngewebe, das mit zeitnahen und geeigneten Therapien gerettet werden kann. Je schneller eine Behandlung durchgeführt wird, desto besser ist die Chance für den*die Patient*in, ohne oder mit weniger schweren Beeinträchtigungen weiterzuleben.

Zum Glück ist bei Kindern die Wahrscheinlichkeit, sich von einem Schlaganfall zu erholen, viel größer als bei älteren Menschen, da ihr Gehirn anpassungsfähiger ist. Die Geschichte von Zosia ist hierfür ein überzeugendes Beispiel. Obwohl sie in der Schule schwere Schlaganfallsymptome zeigte und laut Dr. Singer „die gesamte rechte Gehirnhälfte Gefahr lief, von der Blutversorgung getrennt zu werden“, erholte sie sich schnell, da ihr sehr belastbarer Kreislauf und ihr resilientes Gehirn den durch die verstopfte Arterie eingeschränkten Blutfluss ausgleichen konnten. „Es ist bemerkenswert, dass unser Körper das so kompensieren kann“, so Dr. Singer.

Manche Kinder erholen sich jedoch nicht vollständig und tragen anhaltende oder sogar dauerhafte Gangunsicherheiten sowie Seh-, Sprach- oder Lesestörungen davon. Wenn sehr kleine Kinder einen Schlaganfall erleiden, kann es sein, dass sich einige der Auswirkungen auf das Gehirn erst später bemerkbar machen. Leseschwierigkeiten zum Beispiel könnten sich erst im Schulalter zeigen.

Rehabilitationsprogramme helfen pädiatrischen Schlaganfallopfern, sich möglichst schnell und vollständig zu erholen. Die Ergo- und Physiotherapie konzentriert sich auf die Überwindung motorischer Störungen. Sonderpädagogische Programme behandeln Lern- oder Verhaltensprobleme.

Zwei Jahre nach ihrem Schlaganfall geht es Zosia Wasylewski gut ‒ dank schnellen Handelns und fachkundiger medizinischer Versorgung. Heute ist sie 17 und treibt wieder Sport, lernt und trifft sich mit Freund*innen. Nach ihrer Diagnose entdeckten die Ärzt*innen einen Herzfehler. Ein Loch zwischen dem linken und dem rechten Vorhof ihres Herzens, ein so genanntes offenes Foramen ovale, war der Grund, warum ein Blutgerinnsel in ihrer Wade ins Gehirn gelangen und den Schlaganfall verursachen konnte. Die Ärzt*innen reparierten das Loch. Heute erinnert an ihr einschneidendes Erlebnis nur noch die Tatsache, dass sie täglich Aspirin zur Prophylaxe einnimmt.


Heute genießen Zosia und ihre Eltern das Leben und treiben Sport.
Today Zosia and her parents are enjoying life and exercising sports

Von Peter Jaret

Peter Jaret ist Autor mehrerer Fachbücher aus dem Bereich Medizin, darunter „In Self-Defense: The Human Immune System“, „Nurse: A World of Care“ und „Impact: On the Frontlines of Public Health“. Jaret schreibt häufig für National Geographic, The New York Times, Reader’s Digest, Health Magazine, More, AARP Bulletin und Dutzende anderer Zeitschriften. Er wurde mit einem Preis der American Medical Association for Journalism und zwei James Beard Awards ausgezeichnet. Er lebt in Petaluma, Kalifornien.