Vom Kino in die Klinik

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Martin Lindner
Veröffentlicht am 7. August 2018

Die Bilder sind sicherlich ein Blickfang, aber das ist nicht alles. Cinematic Rendering – eine neue, von Hollywood inspirierte fotorealistische 3D-Visualisierung – könnte die Art und Weise verändern, wie Ärzte arbeiten.

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Mit der neuartigen Rekonstruktion von 3D-Visualisierungen aus CT- und MRT-Daten lassen sich Interventionen effizienter vorbereiten, z.B. in der Herz-, Abdominal- oder Unfallchirurgie. Der Ansatz könnte auch die Kommunikation bei interdisziplinären Befundbesprechungen (Tumor Boards) sowie zwischen Ärzten und Patienten erleichtern.


Dr. Arnaud Van LindenOberarzt, Klinik für Herz-, Thorax- und Thorakale Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum Frankfurt/Main

„Je plastischer die Bildgebung, desto besser für den Operateur”, konstatiert Arnaud Van Linden vom Universitätsklinikum Frankfurt. Der Herzchirurg erprobt das Cinematic Rendering (CR), um minimalinvasive Bypass-Operationen zu planen. Bei den Eingriffen, die als MIDCAB (Minimally Invasive Direct Coronary Artery Bypass) bekannt sind, wird über einen kleinen Schnitt in der Brustwand ein zusätzlicher Gefäßanschluss am Herzen hergestellt. „Dank CR können wir virtuell in den Brustkorb blicken, den Verlauf der Gefäße beurteilen, das Herz von der Seite oder von oben betrachten – und dann den idealen Operationszugang festlegen“, sagt Van Linden. „Es sieht auf den Bildern wirklich so aus wie hinterher bei der Operation.“
Diese Wirklichkeitstreue basiert auf einem spezifischen Algorithmus der Bildsynthese. CR stammt aus der Filmindustrie (daher der Name) und erlaubt beispielsweise, computeranimierte Figuren besonders lebensecht erscheinen zu lassen. In der Medizin werden die Bildrekonstruktionen meist anhand von kontrastverstärkten CT-Scans berechnet, allerdings wären auch MR-Daten geeignet.

3D-Renderings sind in der Bildgebung nicht neu. Bei der bisherigen Standardmethode, dem Volume Rendering, wird ein Bilddatensatz quasi von einer virtuellen Lichtquelle durchstrahlt, um Transparenz- und Farbeigenschaften des Gewebes zu simulieren und den Eindruck eines plastischen Objekts zu erzeugen. CR nutzt dazu ein deutlich komplexeres Illuminationsmodell, das vielfältige Lichtstreuungs-, Absorptions- und Schattenbildungseffekte integriert, wie sie beim normalen Sehen in der Alltagsumgebung zum Tragen kommen.[1] Dies macht die Bilder sehr realistisch – und die Operationsplanung leichter.
 

Die fotorealistische Darstellung ist näher an der realen chirurgischen Ansicht als andere bildgebende Darstellungsmethoden.

Wichtig beim MIDCAB sei vor allem der richtige Operationsweg, der über den vierten, aber ebenso fünften Rippenzwischenraum möglich ist, erläutert Van Linden. „Manchmal entscheidet man sich für den weniger optimalen Zugang, und dann quält man sich während der Operation.“ Bei einigen Patienten stünden nur einfache Röntgenbilder für die Planung zur Verfügung, doch auch mit CT-Scans täten sich Herzchirurgen bisweilen schwer, die Anatomie im Brustkorb genau zu überblicken. „Der MIDCAB geht zwar auch ohne CR – aber er wird damit praktikabler“, sagt Van Linden. Kürzere OP-Zeiten könnten dabei zudem zu Kosteneinsparungen und zu einer schnelleren Genesung des Patienten führen.

Auch Hybrid-Eingriffe durch kombinierte Teams aus Herzchirurgen und Katheterspezialisten oder komplexe Herz-OPs im Kindesalter ließen sich mit der neuen Visualisierungsmethode vermutlich besser planen, sagt Van Linden. Nicht zuletzt der Umstand, dass die CT-Koronarangiographie zunehmend als diagnostische Alternative zum Herzkatheter eingesetzt wird (und dann ohnehin CT-Daten vorliegen), könnte CR zu einer Routine im präoperativen Imaging machen.[2]


Dr. Christian KrautzFacharzt für Viszeralchirurgie, Chirurgische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen

Ähnliches gilt für die Abdominalchirurgie. „Gerade bei komplexen anatomischen Verhältnissen sind die Visualisierungen hilfreich“, unterstreicht Viszeralchirurg Christian Krautz vom Universitätsklinikum Erlangen.
In einer Evaluierungsstudie zum CR sollten dort zehn erfahrene chirurgische Oberärzte und zehn Assistenten retrospektiv ausgesuchte schwierige Beispielfälle anatomisch beurteilen. Die Ärzte bekamen einerseits CT-Scans, andererseits CR-Bilder zur Verfügung gestellt, um beispielsweise einzuschätzen, ob ein Tumor der Bauchspeicheldrüse Kontakt zur oberen Eingeweidearterie (superior mesenteric artery) besitzt oder ob in der Leber Gefäßvarianten vorliegen. Derlei kann entscheidend für die Interventionsstrategie sein.
Tatsächlich konnten die Chirurgen die Fragen anhand der CR-Visualisierungen nicht nur schneller, sondern auch häufiger korrekt beantworten. So reduzierten sich die Befundungszeiten sowohl bei den erfahreneren Oberärzten als auch bei den Assistenten. Gleichzeitig stieg der Anteil richtiger Beurteilungen in beiden Gruppen signifikant.

Die Möglichkeit, anatomische Gegebenheiten in 3D rasch zu erfassen, könnte auch die Kommunikation in interdisziplinären Tumorboards deutlich erleichtern, ergänzt Krautz. Darüber hinaus eigneten sich die anschaulichen Visualisierungen für die Aufklärung von Patienten. Die Erlanger Chirurgen planen nun, CR in einer Folgestudie prospektiv in die Operationsplanung einfließen zu lassen und zudem als Orientierungshilfe während des Eingriffs zu testen.

Ein weiteres Anwendungsbeispiel für CR biete die Unfallchirurgie, berichtet Elliot Fishman, 3D-Bildgebungsspezialist am Johns Hopkins Hospital, USA. Beispielsweise werde nach Verkehrsunfällen oft eine kontrastverstärkte Computertomographie durchgeführt, um das Ausmaß der Verletzungen zu beurteilen. „Das ist Standard in der medizinischen Versorgung,“ sagt Fishman. CR-Rekonstruktionen seien daher meist ohne Zusatzaufwand möglich.
Fishmans Team nutzt CR derzeit rund 50 Mal pro Monat und hat mittlerweile eine Reihe von Fallstudien veröffentlicht, etwa zu komplizierten Frakturen, Schuss- oder Stichwunden.[3] Der mögliche Nutzen des CR liege vor allem in der besseren Beurteilung, welche Behandlungsstrategie die jeweils optimale ist – ob beispielsweise bei einem Beckenbruch sofort oder erst später operiert werden sollte und ob sich ein vorderer oder hinterer Operationszugang anbietet. „CR könnte die chirurgische Entscheidungsfindung präziser und sicherer machen,“ sagt Fishman.


Dr. Elliot FishmanAbteilungsleiter Diagnostische Bildgebung und Körper-CT am Johns Hopkins Hospital, Baltimore, Maryland, USA

Eine plastischere Bildgebung könnte sogar helfen, unnötige Interventionen ganz zu vermeiden. Fishman und Kollegen schildern den Fall einer 23-jährigen Frau, bei der nach einem Verkehrsunfall zunächst eine bedrohliche Verletzung der Aorta vermutet wurde, welche sich dann jedoch als harmloses Überbleibsel eines fötalen Blutgefäßes (ductus diverticulum) herausstellte. Bereits die CT-Bilder wiesen auf diese anatomischen Verhältnisse hin, im 3D-Rendering zeigten sie sich allerdings besonders klar.[4]
Wie groß der Zusatznutzen des CR für die klinische Routine tatsächlich ist, müsse sich erst noch in größeren Studien beweisen, räumt Fishman ein. „Wir haben bei diesem Ansatz immer noch eine steile Lernkurve.“ Die Qualität und Anschaulichkeit der Bilder bezweifle allerdings kaum jemand, fügt er hinzu. „CR hebt die 3D-Visualisierung auf die nächsthöhere Stufe.”

Martin Lindner ist ein preisgekrönter Wissenschaftsautor mit Wohnsitz in Berlin. Nach Abschluss seines Medizinstudiums und seiner Doktorarbeit in der Geschichte der Medizin wandte er sich dem Journalismus zu. Seine Artikel sind in vielen großen deutschen und schweizerischen Zeitungen und Zeitschriften erschienen.


Von Martin Lindner

Martin Lindneris is an award-winning science writer based in Berlin, Germany. After completing his medical studies and a doctoral thesis in the history of medicine, he went into journalism. His articles have appeared in many major German and Swiss newspapers and magazines.