Die Robotik ist im Herzkatheterlabor angekommen

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Andrea Lutz
Veröffentlicht am 15. Juli 2020

Die erste robotergestützte Koronarintervention in Deutschland fand an der Universitätsklinik Gießen statt.

Minen entschärfen: möglich. Autos zusammenbauen: gern. Aber ein Roboter, der bei einem Eingriff am Herzen assistiert – das klingt auch im Jahr 2020 für viele Menschen nach Science-Fiction und ist weniger mit Begeisterung als vielmehr mit Angst verbunden. Hier sind die wichtigsten Fakten zum Robotereinsatz bei einer Intervention am Herzen. Erfahren Sie, wie Ärzte mit der Technologie heute schonender und präziser arbeiten und warum es für Siemens Healthineers weit mehr als eine Herzensangelegenheit war, das Unternehmen Corindus ins eigene Portfolio zu integrieren.

Fotos: Marco Leibetseder

Video: ANDICAM

Die koronare Herzerkrankung ist eine der häufigsten kardiovaskulären Erkrankungen in westlichen Industrienationen. Ihre Folgen, beispielsweise der akute Herzinfarkt, gehören weltweit zu den häufigsten Todesursachen.[1] Zur Behandlung des Koronarsyndroms hat sich die perkutane Koronarintervention (PCI) zur Implantation von Gefäßstützen – den sogenannten Stents – als Goldstandard etabliert. Allerdings ist eine PCI mit Herausforderungen, sowohl für den Patienten als auch für das Team im Herzkatheterlabor, verbunden.

Um Gefäßstrukturen detailliert zu erkennen, ist eine präzise Bildgebung während einer Koronarintervention unverzichtbar. Dazu wird ein Kontrastmittel gespritzt, das mit Röntgenstrahlung sichtbar wird. Patienten sind während der Operation also kurzzeitig einer gewissen Strahlenbelastung ausgesetzt. Bei den Operateuren jedoch ist dies täglich der Fall. Um sich gegen die ständige Strahlenexposition zu schützen, trägt das klinische Personal während der Prozedur Bleischürzen – und die fühlen sich nach einiger Zeit auch bleischwer an. Das Tragen der Schutzkleidung ist eine Belastung für Knochen, Wirbelsäule und Muskulatur und zugleich können nicht alle Organe und Körperteile geschützt werden. Grund genug, um Verfahren zu erproben, die es den Medizinern ermöglichen, dauerhaft auf Abstand zur Strahlenquelle zu arbeiten.



Inzwischen sind ferngesteuerte Roboter für koronare Eingriffe so weit entwickelt, dass sie standardmäßig zum Einsatz kommen können. Allerdings: „Der Roboter allein würde nicht zum Erfolg führen“, sagt Doris Pommi, Leiterin Cardiovascular Care und Koordinatorin für die globale kommerzielle Skalierung von Corindus bei Siemens Healthineers. Erst kombiniert mit detailreicher Bildgebung, entsprechenden Informationen aus dem System und der Erfahrung eines routinierten Kardiologen entstehe eine „Revolution“. Um den Katheter zu führen und einen Stent zu setzen, werden Roboter und Angiographie-System kombiniert. Die Angiographie gewährt den Ärzten während des gesamten Eingriffs einen präzisen Blick auf die Gefäßstrukturen ihres Patienten. Der Kardiologe kann den Roboter im Katheterlabor über ein Kontrollmodul aus der Ferne bedienen und damit Führungskatheter, Führungsdrähte, Ballon- oder Stent-Implantate präzise lenken. Solche Präzision ist entscheidend für den Erfolg der Prozedur und für das langfristige Ergebnis. Und weil der Roboter keine Tagesform hat und weil für die Maschine Bewegungen im Millimeterbereich wieder und wieder machbar sind, bringt sie diese gleichbleibend hohe Präzision ins Katheterlabor.

Um das eigene Portfolio sinnvoll zu erweitern, bot Siemens Healthineers 1,1 Milliarden Dollar für das US-Unternehmen Corindus Vascular Robotics, das als eines der ersten robotergestützte Systeme für minimalinvasive Gefäß-Interventionen entwickelt hat. „Wir wollen die Medizintechnik gestalten und damit Vorreiter sein“, sagt Pommi. Darum werde in Wachstumsmärkte mit großem Zukunftspotenzial investiert. Dieser Roboter bringt eine Verbesserung für die Ärzte und zugleich eine echte Chance für das Gesundheitssystem. Die geplante Implementierung von künstlicher Intelligenz erlaubt voraussichtlich eine Vereinfachung der PCI-Prozedur. Höchste Zeit also, die Zukunftstechnologie zum Standard zu entwickeln. Langfristig sollen die Roboter nicht nur Patienten und Teams schützen, sondern sie sollen auch Folgeeingriffe minimieren, die Effizienz steigern und somit letztendlich auch mehr Menschen den Zugang zu einer optimalen Gesundheitsversorgung ermöglichen. In der Prozessoptimierung liegt das Potential dieser Technologie.

Robotergestützte Operationen werden bereits in verschiedenen Medizinbereichen durchgeführt. In der Kardiologie gab es das in Deutschland bislang nicht. Ein erfolgreicher Eingriff in Gießen (siehe Info-Box) zeigt, dass solche Systeme in der Kardiologie an der Seite eines Arztes zu zuverlässigen Co-Piloten werden können. Die Maschine trägt dazu bei, dass der Mensch effizienter arbeiten kann. Das System kann die Mediziner nicht ersetzen, sondern wird stets ein nützliches Hilfsmittel sein, mit denen Komplikationen vermieden und Prozesse optimiert werden. Und: Die Technologie ermöglicht es vielleicht zukünftig, dass Spitzenmediziner ihre Fähigkeiten kurzfristig für Patienten in unterschiedlichen Regionen einsetzen. Im Rahmen einer klinischen Studie wurde die PCI bei fünf Patienten unter Verwendung von Telerobotik und der CorPath GRX-Plattform* durchgeführt.[2] Albrecht Elsässer von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie schlussfolgert, dass die Technik in fünf bis zehn Jahren „universell und flächendeckend“ genutzt werden kann.[3] Interventionen verändern sich schnell – weil Mensch und Maschinen zusammen mehr schaffen als jeder allein und weil sichtbarer Erfolg größer ist als die menschliche Angst.

Mit Hilfe eines Robotersystems haben Ärzte am Universitäts-Klinikum in Gießen einen Eingriff bei einem Herzpatienten durchgeführt und ihm eine Gefäßstütze, einen sogenannten Stent, eingesetzt. „Die Intervention hat gut funktioniert", berichtet Professor Holger Nef, der als interventioneller Kardiologe einer der führenden Spezialisten in Deutschland ist. Mithilfe eines Joysticks und eines Controllers steuerte er einen Draht, an dem der Stent befestigt war. Um den Katheter zu führen und den Stent exakt zu platzieren, nutzte das Team in Gießen das Robotersystem „CorPath GRX" zusammen mit einem ARTIS Angiographie-System von Siemens Healthineers.

Das Robotersystem CorPath GRX in Kombination mit einem Bildgebungssystem wurde zur Durchführung des ersten PCI in Deutschland eingesetzt.

Prof. Dr. Holger Nef, Interventioneller Kardiologe, stellvertretender Klinikdirektor Universitätsklinik Gießen

Dass ein Robotersystem durch seine mechanische Präzision die Stent- und Ballonpositionierung in 1-mm-Schritten erlaubt, ist eine Größe, die für sich spricht. Aber nun wurden auch Sicherheit, Anwendbarkeit und Effektivität des Roboters mit der konventionellen PCI verglichen. Klinische Erfolge des Verfahrens wurden bei 160 von 164 Patienten (97,6%) erzielt. Die Strahlenbelastung des interventionellen Kardiologen reduzierte sich um 95 Prozent im Vergleich zur konventionellen PCI.[4]

Andrea Lutz ist Journalistin und Business Trainer. Sie fokussiert sich auf medizinische Themen, Technik, und IT im Gesundheitswesen und lebt in Nürnberg.


Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.