Das gläserne Herz: OP-Vorbereitung im virtuellen Raum

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Marc Engelhardt
Veröffentlicht am 27. August 2020

In Erlangen setzen der Kinderkardiologe Dr. Muhannad Alkassar und seine Kollegen einen Augmented Reality Prototypen ein, um schwierigste Herzoperationen optimal und schnell vorzubereiten. Durch die HoloLens verraten fotorealistisch visualisierte CT-Scans in 3D winzige Details. Derzeit vergleichen die Ärzte diese Technologie mit 3D-Druck.

Fotos: Stefan Hobmaier

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Die niedrige Sauerstoffsättigung von nur 85 Prozent ließ die Ärzte auf der Geburtsstation des Erlanger Universitätsklinikums aufmerken: Bei der vorgeburtlichen Untersuchung war zwar kein Herzfehler diagnostiziert worden. Doch weil die Haut sich infolge einer Zyanose blaurot verfärbte, alarmierten sie nicht einmal eine Stunde nach der Geburt den Kinderkardiologen Dr. Muhannad Alkassar. „Innerhalb von 30 Minuten haben wir eine Computertomographie erstellt und die vermutete Fehlanbindung der Lungenvene bestätigen können“, erinnert sich der 40-jährige. Entscheidend für den Erfolg solcher Notoperationen – Dr. Alkassars Spezialgebiet – ist die bestmögliche Vorbereitung. Der Chirurg konnte mittels moderner Technik den Neugeborenen vorab untersuchen, als läge er schon geöffnet vor ihm auf dem OP-Tisch. Und als wäre sein walnussgroßes Herz aus Glas.

„Wenn wir uns ein derart erkranktes Herz im Ultraschall ansehen, dann müssen wir die verschiedenen Schichtebenen im Kopf zusammensetzen, damit ein dreidimensionales Bild daraus entsteht“, erläutert Alkassar. „Für einen Chirurgen, der das im Gegensatz zu uns Kardiologen seltener macht, ist das besonders schwierig.“ Jeder Herzfehler ist einzigartig. Im Fall des Neugeborenen lief das in der Lunge mit Sauerstoff angereicherte Blut nicht in die linke Herzkammer, sondern über ein Bauchgefäß in die untere Hohlvene. Gefäße und Herz konnten sich der Chirurg und Dr. Alkassar in Farbe und 3D ansehen – mit der von Microsoft entwickelten HoloLens 2, durch die beide Ärzte das aus dem CT-Scan aufbereitete Hologramm des Patientenherzens aus allen Positionen und in allen Details betrachten konnten. „Darauf will keiner verzichten, wenn er das einmal genutzt hat“, lächelt Dr. Alkassar.

Als Dr. Alkassar die HoloLens vor gut einem Jahr zum ersten Mal aufsetzte, war er selbst noch skeptisch. „Ich habe mir nicht vorstellen können, wie hochauflösend die Abbildung des Objekts wirklich ist. Ich kannte die fotorealistische Abbildung zwar schon vom Bildschirm, aber ein Herz in dieser Qualität dreidimensional im Raum zu sehen, ist noch mal etwas ganz Anderes.“ Die CT-Aufnahmen werden mittels einer App mit dem Cinematic-Rendering-Verfahren bearbeitet, einer Technik, die – inspiriert von Hollywoods computergenerierten Kinobildern – bei der Abbildung die Schatten einbezieht, die jeder einzelne Pixel wirft. „Das klingt erstmal wie eine Spielerei. Aber unser Auge ist es gewohnt, den Lichteinfall mitzusehen – und das bedeutet, dass man gerade bei der Feinheit der Gefäße und Strukturen, mit denen wir arbeiten, im gewohnten Modus sieht und arbeitet. Das macht einen enormen Unterschied.“ Dieser Unterschied lässt sich messen:

Dr. Alkassar und die Mitarbeiter seiner Arbeitsgruppe verglichen die Vorbereitung mit Augmented-Reality-Darstellung auf der HoloLens mit einem Modell aus dem 3D-Drucker.

Bei 26 Patienten verglichen Dr. Alkassar und die Mitarbeiter seiner Arbeitsgruppe die Vorbereitung mit Augmented-Reality-Darstellung auf der HoloLens mit einem Modell aus dem 3D-Drucker – die übliche Art der Operationsvorbereitung. In der subjektiven Einschätzung der Ärzte schnitt die HoloLens deutlich besser ab, wohl auch, weil zusätzlich zum Herzen auch die Umgebung aus Muskeln, Knochen und Gefäßen abgebildet wird. Daraus erklärt sich, warum Chirurgen sich auf den eigentlichen Beginn der Herzoperation mit HoloLens deutlich schneller vorbereiten können als ohne. Und noch etwas spricht für sie: Die Aufbereitung der Daten braucht nur wenige Minuten. „Für einen 3D-Druck muss ich 24 Stunden einrechnen.“


Dr. Muhannad Alkassar, Kinderkardiologe, Universitätsklinikum Erlangen

Das Hologramm öffnete Dr. Alkassar und den Chirurgen mehr als einmal die Augen: Als die Verbindung zwischen dem rechten Ventrikel und der Pulmonararterie von einer Membran verschlossen war, ließ sich das genau nur in der 3D-Darstellung erkennen. „Da erst haben wir gesehen: Man kann über den Herzkatheter in die Pulmonararterie durchstoßen und braucht dann erstmal keine Operation.“ Ein anderes Mal erschien die komplizierte Einmündung einer fehlgeleiteten Lungenvene, die im Ultraschall nicht sichtbar war, deutlich vor Augen. „Als nächstes planen wir, unsere Sitzungsräume so umzugestalten, dass das Hologramm in der Mitte des Konferenztisches erscheint“, erzählt Dr. Alkassar. „Dann können wir als Team das Bild betrachten, während wir uns besprechen, und bestimmte Gespräche werden einfacher.“ Auch für die Ausbildung, für Briefings von Angehörigen oder Patienten bietet die Technologie Potenzial. Denn viele Herzpatienten müssen ihr Leben lang medizinisch betreut werden.

Was hätte wohl der vor 175 Jahren geborene Wilhelm Conrad Röntgen zu HoloLens und kinoreif bearbeiteten 3D-Bildern aus dem Körperinneren gesagt? „Ich glaube, das wäre für die damalige Zeit Zauberei gleichgekommen“, meint Dr. Alkassar verschmitzt. „Aber man braucht gar nicht so weit zurückzugehen: Selbst vor 30, 40 Jahren hätte man sich das nicht mal am Bildschirm vorstellen können. Nun wird das Realität, was damals nur bei Star Trek im Holodeck ablief.“ Und das ist noch längst nicht alles. „Für die Zukunft macht es sicher Sinn, diese Technologie zur Unterstützung im OP zu nutzen, aber dafür braucht es noch einige Entwicklungen etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz.“ Dass die lösbar sind, daran hat Dr. Alkassar keine Zweifel. Für einen Arzt, der täglich Kinderherzen gläsern macht, scheint alles möglich.

Dr. Muhannad Alkassar (40) ist promovierter Biologe und Mediziner. Der in Homburg (Saar) aufgewachsene Sohn eines Ingenieurs und einer Physikerin und Chemikerin arbeitet und forscht seit fünf Jahren in der Kinderkardiologie der Universitätsklinik Erlangen.

Marc Engelhardt berichtet als freier Journalist und Buchautor weltweit über die neuesten Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Als Korrespondent war er für eine Reihe deutschsprachiger Medien wie Neue Zürcher Zeitung, ARD und Die Zeit tätig.


Von Marc Engelhardt
Marc Engelhardt berichtet als freier Journalist und Buchautor weltweit über die neuesten Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Als Korrespondent war er für eine Reihe deutschsprachiger Medien wie Neue Zürcher Zeitung, ARD und Die Zeit tätig.