Gesundheitswesen digitalisieren

Vernetzungsplattformen – Versorgung digital (er)lebenAlle reden über das digitale Gesundheitswesen. Ein Schlüssel dafür sind offene, interoperable Plattformen, auf denen attraktive Anwendungen sicher bereitgestellt werden können.

06.06.2023

Regional, intersektoral, digital und unter konsequenter Einbeziehung der Patient*innen: Wie eine moderne Gesundheitsversorgung im 21. Jahrhundert aussehen sollte, ist seit Jahren unstrittig. „Wir liegen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens international zurück und wir holen bisher auch nicht auf“, sagt Prof. Dr. David Matusiewicz, Dekan der FOM Hochschule für Gesundheitsökonomie und Management.

Mittlerweile machen sich Menschen mit Weitblick auch im deutschsprachigen Raum auf den Weg, integrierte Versorgungsplattformen zu etablieren, die die jeweiligen nationalen IT-Infrastrukturen des Gesundheitswesens sehr gut ergänzen. Die Schweiz führt zum Beispiel eine Patientenakte für alle Bürger*innen ein, die dort „elektronisches Patientendossier“ heißt. Sie ähnelt der für Deutschland geplanten „ePA“. Flankiert wird die eng regulierte Welt des Patientendossiers von der Schweizer Post mit der Vernetzungsplattform „Cuore“. Technische Basis von Cuore ist die teamplay digital health platform connect von Siemens Healthineers.

Die Plattform verfolge zwei Ziele, so Matthias Glück, CEO der Schweizer-Post-Tochter Axsana AG, die Cuore am Markt bereitstellt. Zum einen würden die Patientendossiers unkompliziert und sicher zugänglich gemacht. Zum anderen können über die Plattform digitale Services angeboten werden, die Nutzen bringen und intersektorale Versorgung ermöglichen. Dazu gehören auf Seite der Versorger*innen zum Beispiel Berichtstransfer und Bilddatenmanagement, auf Seite der Patient*innen exemplarisch Impfdossier und Medikation. Es wird außerdem telemedizinische Anwendungen geben, etwa virtuelle Patientenvisiten. Dabei ist entscheidend, dass auch Partner Services anbieten können bzw. sollen. Denn Cuore ist eine offene Plattform, die zudem für Interoperabilität sorgt: „Bei Cuore gibt es nur eine Schnittstelle, über die alle Services bezogen werden. Cuore ist damit das Herzstück der digitalen Vernetzung im Schweizer Gesundheitswesen.“
In Deutschland ist Bayern eines der Bundesländer, die die Notwendigkeit für solche Plattformen früh erkannt haben. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) hat mittlerweile eine ganze Reihe intersektoraler digitaler Plattformprojekte auf den Weg gebracht. So gibt es mehrere so genannte Fallakten, die medizinische Einrichtungen und Patient*innen vernetzen – beispielsweise nach einem Adipositas-chirurgischen Eingriff, im Zusammenhang mit einer Krebsdiagnose oder auch bei Herzinsuffizienz.

Breiter aufgesetzt ist DocOnline, eine Vermittlungsplattform für kassenärztlichen Bereitschaftsdienst und ambulante Arztbesuche, die die KVB gemeinsam mit der VitaGroup umsetzt. Auch DocOnline wird für die Vernetzung die Plattformlösung von Siemens Healthineers nutzen. Ziel sei es, die bisher telefonisch über die Nummer 116117 erreichbare Terminvergabe um einen digitalen Zugang zu ergänzen, so Fabian Demmelhuber, Leiter Referat Versorgungsinnovationen der KVB: „Wir brauchen solche Angebote, um den Sicherstellungsauftrag, den wir als KV haben, in die Zukunft zu führen.“ Bei der reinen Terminvergabe bleibt es nicht: Es werden bereits Videosprechstunden über die Plattform angeboten. Und das kommt an: „Von unseren Mitgliedern kriegen wir richtig gute Rückmeldungen. Und wir werden weitere digitale Services anbieten.“
Dass Vernetzungsplattformen für Krankenhäuser nützlich sind, beweist die Universitätsmedizin Mannheim (UMM). Dort wurde unter dem Namen INSPIRE Living Lab eine urologisch-orthopädische Station mit eigener digitaler Vernetzungsplattform eröffnet. Personal und Patient*innen sollen hier über Smartphone oder Tablet unterschiedlichste Anwendungen nutzen, die die Kommunikation erleichtern, Datenzugriff verschaffen oder medizintechnische Geräte anbinden.

Auch hier steht der Platform-as-a-Service-Gedanke im Vordergrund: Partnerunternehmen können nach Absprache mit der UMM Mehrwertdienste anbieten. Durch diesen offenen und kooperativen Plattformansatz wird gewährleistet, dass Anwendungen, die einen wirklichen Nutzen stiften, schnell bei den Patient*innen und/oder beim medizinischen Personal ankommen und unter realen, klinischen Versorgungsbedingungen auf Herz und Nieren getestet werden können. „Wir sind überzeugt, dass das INSPIRE Living Lab am Universitätsklinikum Mannheim für die Region Rhein-Neckar und deutschlandweit eine einzigartige Rolle einnimmt und innovative Medizintechnik von morgen schon heute für unsere Patientinnen und Patienten und Mitarbeitende erlebbar machen kann, so Dr. Hannah Schlott, Projektmanagerin des INSPIRE Living Labs.

Die Beispiele zeigen, dass immer mehr Verantwortliche die Notwendigkeit von digitalen Plattformen erkennen, die eine niedrigschwellige, auf internationalen Standards basierende Vernetzung von Versorgungsakteuren ermöglichen. Gerade in Deutschland wird der Bedarf an solchen Lösungen stark steigen, wenn die Einführung der elektronischen Patientenakten in den nächsten Jahren unter dem Motto „ePA für alle“ forciert wird. Datensafes in der Hand der Patient*innen werden den gewünschten Digitalisierungsschub für die medizinische Versorgung aber nur dann bringen, wenn es medizinischen Einrichtungen aller Art ermöglicht wird, die Daten einzusehen, sie weiterzuverarbeiten, zu analysieren oder anderweitig im Sinne der Patient*innen zu nutzen – natürlich im Rahmen der datenschutzrechtlichen Vorschriften.

Die im Februar 2023 vorgelegte Digitalstrategie des Bundesgesundheitsministeriums will genau das erreichen, wenn sie betont, dass das digitale Gesundheitswesen mit seinen elektronischen Patientenakten plattformartige Strukturen benötigt. Die Vision ist formuliert, das Ziel ist klar. Jetzt ist Umsetzen gefragt.