Prof. Dr. Frederick Klauschen, Prof. Dr. Stefan Schönberg, Prof. Dr. Michael Forsting

In der Medizin von morgen denkt der Algorithmus mit

06.06.2019

Künstliche Intelligenz und Maschinenlernen werden die Medizin in viel größerem Ausmaß verändern, als die meisten wohl denken. Algorithmen, die radiologische Bilder auswerten helfen, sind nur der Anfang. Quer durch die medizinischen Disziplinen könnte „KI“ zum unverzichtbaren Assistenten des Arztes werden.

Vom Sprachassistenten im Wohnzimmer über intelligente Algorithmen für die Geldanlage bis hin zu softwaregestützter Verkehrssteuerung und autonomem Fahren: An Künstlicher Intelligenz (KI) und Maschinenlernen führt kein Weg mehr vorbei. Auch die Politik nimmt sich des Themas an. Ob in Berlin, wo die deutsche Bundesregierung Ende 2018 ihre KI-Strategie vorgelegt hat, oder in Brüssel, wo die EU-Kommission im April 2018 eine europäische „AI Strategy“ formulierte und zum Jahreswechsel den Entwurf für europäische, KI-bezogene Ethik-Richtlinien vorlegte: Überall herrscht geradezu hektische Betriebsamkeit, damit Deutschland und Europa bei diesem zentralen Zukunftsthema das Feld nicht Amerikanern und Chinesen allein überlassen müssen.

Auch die Medizin bleibt von der KI-Welle nicht unberührt. Im Gegenteil: Von Prävention und Früherkennung über die Diagnose bis hin zu Therapie und Krankheitsmanagement gibt es kaum einen Bereich der medizinischen Versorgung, in dem innovative Unternehmen und technologieaffine medizinische Einrichtungen intelligente Algorithmen nicht entwickeln, erproben und – zunehmend – auch einsetzen.

Künstliche Intelligenz ist ein sehr breiter, unscharf definierter Begriff. Wer derzeit über KI redet, meint meistens das „Deep Learning“, eine spezielle Form des Maschinenlernens mithilfe künstlicher neuronaler Netzwerke. Es wurde bekannt durch den Google-Algorithmus, dem es gelang, den Go-Weltmeister zu schlagen. Tatsächlich gibt es neuronale Netzwerke aber schon seit Jahrzehnten. „Geändert hat sich vor allem die Rechenleistung. Dadurch werden Algorithmen, die es schon länger gibt, jetzt auch praktisch anwendbar“, sagt Dr. Bram Stieltjes, Leiter Forschungskoordination Radiologie und Nuklearmedizin am Universitätsspital Basel (USB). Um Dimensionen leistungsfähiger geworden sind auch die Grafikkarten – essenzielle Werkzeuge für das Training neuronaler Netzwerke.

Prof. Dr. Stefan Schönberg
Prof. Dr. Stefan Schönberg
Direktor des Instituts für Klinische Radiologie und Nuklearmedizin, Universitätsmedizin Mannheim

Dieses Training – nicht selten an zehntausenden Datensätzen – hat vor allem in der Radiologie Schlagzeilen gemacht, wo Algorithmen bei einigen Fragestellungen mittlerweile besser abschneiden als radiologische Fachärzte. Prof. Dr. Stefan Schönberg, Direktor des Instituts für klinische Radiologie und Nuklearmedizin Universitätsmedizin Mannheim, spricht von einer „mathematischen Revolution in der Radiologie“. Längst gehe es nicht mehr nur darum, Bilder zu analysieren. Stattdessen durchforsten Algorithmen in einem Zeitalter der „Radiomics“ multidimensionale Datensätze mit einer Auflösung bis hinunter zum einzelnen Voxel: „Es ist gar nicht so klar, ob wir wirklich noch Bilder ansehen oder nicht eher rein statistische Parameter“, so Schönberg.

Dass Algorithmen in der Radiologie die Ärzte ersetzen, diese von den Medien mitunter verbreitete Befürchtung, wird von Experten nicht geteilt: „Die meisten Radiologen empfinden die KI nicht als Bedrohung, sondern als Gewinn für ihr Fach“, sagt Prof. Dr. Michael Forsting vom Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie und Neuroradiologie am Universitätsklinikum Essen. Algorithmen, so Forsting, würden den Radiologen nicht zuletzt repetitive, zeitfressende Tätigkeiten abnehmen und sie so im Alltag entlasten: „Wir haben in Essen beispielsweise das Zählen von MS-Läsionen im Gehirn automatisiert. Bei der Bestimmung des Knochenalters und bei der Früherkennung von Hirninfarkten kommen ebenfalls Algorithmen zum Einsatz.“

Prof. Dr. Frederick Klauschen
Prof. Dr. Frederick Klauschen
Institut für Pathologie der Charité Berlin

Auch in anderen diagnostischen Fächern könnten selbstlernende Algorithmen in den nächsten Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen führen. Ganz vorn dabei ist die Pathologie, die im digitalen Zeitalter enorm große Datensätze produziert, die bisher noch nicht annähernd vollständig ausgewertet werden. „Im ersten Schritt reden wir sicher zunächst einmal über eine Effizienzsteigerung durch KI“, betonte Prof. Dr. Frederick Klauschen vom Institut für Pathologie der Charité Berlin bei einer Veranstaltung des Bundesverbands Deutscher Pathologen in Berlin. Der Pathologe hält es zum Beispiel für wahrscheinlich, dass Algorithmen ihm und seinen Kollegen schon recht kurzfristig das Auszählen von Zellkernen abnehmen. Dadurch werde mehr Zeit frei für komplexere Fragestellungen.

Mittelfristig hält Klauschen auch ganz andere Auswertungen für denkbar, beispielsweise Analysen, die ohne KI nicht ohne Weiteres möglich sind. So ist es durchaus denkbar, dass selbstlernende Algorithmen besser als Menschen bei Krebspatienten komplexe Biomarkermuster erkennen können. Diese Muster wiederum könnten – besser als Einzelparameter – im Sinne präzisionsmedizinischer Konzepte genutzt werden, um vorherzusagen, welche Patienten zum Beispiel auf Immuntherapien ansprechen.

Stichwort Biomarker: Auch in der Labormedizin, dem neben Pathologie und Radiologie dritten großen, diagnostischen Fach, dürften KI-Algorithmen einige Entwicklungen anstoßen. So sagten in einer von Siemens Healthineers initiierten Umfrage unter 200 Führungskräften aus dem Bereich klinische Labors sieben von zehn Befragten, dass KI in den nächsten vier Jahren Einzug in den Bereich In-vitro-Diagnostik (IVD) halten wird. Sogar neun von zehn waren überzeugt, dass KI langfristig signifikante Auswirkungen auf das Gesundheitswesen haben werde. Und jeder Zweite beschäftigte sich bereits konkret mit KI-Anwendungen in der Labormedizin.

Interessant sind im Bereich Labor zum einen Algorithmen, die die betrieblichen Abläufe unterstützen. So kann eine KI im Rahmen der laborübergreifenden Überwachung diagnostischer Systeme Probleme erkennen, bevor es zu Ausfällen kommt, was proaktive Wartungsschemata erlaubt. Auf klinischer Seite eignen sich Algorithmen in der Labormedizin für die diagnostische Entscheidungsfindung, aber auch, ähnlich wie in der Pathologie, für die prädiktive Analytik auf Basis komplexer Biomarkermuster.

Besonders vielversprechend ist eine übergreifende Analyse diagnostischer Informationen, bei der Algorithmen Daten aus Labor, elektronischer Patientenakte, Bildgebung und gegebenenfalls Pathologie zusammenführen. Bram Stieltjes vom USB sieht in dieser durch KI unterstützten „Interdisziplinarität“ einen der Hebel, über den sich Algorithmen konkret auf den klinischen Alltag in den diagnostischen Fächern auswirken: „Vielleicht lösen sich die bisherigen Rollen als Radiologe, Pathologe und Labormediziner künftig auf. Vielleicht werden wir zunehmend zu Gesamtintegratoren diagnostischer Informationen und rücken in integrierten diagnostischen Abteilungen enger zusammen, um so schnell wie möglich alle diagnostischen Puzzlestückchen zusammenzuführen.“

Prof. Dr. Michael Forsting
Prof. Dr. Michael Forsting
Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie und Neuroradiologie am Universitätsklinikum Essen

Radiologie, Pathologie, Labormedizin – das alles sind stark technisch ausgerichtete Fächer, die in vielen Bereichen schon sehr digital arbeiten. Kein Wunder also, dass sich viele Diskussionen um medizinische KI derzeit hier abspielen. Ein Übergangsphänomen, ist Prof. Dr. Michael Forsting überzeugt, der für den jährlichen Kongress „Emerging Technologies in Medicine“ (ETIM) verantwortlich zeichnet, der die medizinische KI weit über die Radiologie hinaus thematisiert: „Auf Dauer werden sich die technischen Disziplinen viel weniger verändern als die sprechende und klinische Medizin.“

Warum das? „In den nicht-technischen Fächern passieren einfach die meisten Fehler und KI kann Fehler reduzieren“, so Forsting. Beispielhaft nennt der Radiologe algorithmengestützte Anwendungen, die anhand von Stimme, Gesichtsausdruck oder Körperhaltung die Verdachtsdiagnose einer Depression stellen. Solche Algorithmen werden zunehmend in klinischen Studien erprobt. Sie könnten viel Nutzen stiften, etwa in Situationen, in denen ein Arzt, der kein Psychiater ist, einen Patienten mit einem nur vermeintlich körperlichen Leiden vor sich hat.

Über ein etwas anders gelagertes Beispiel berichteten Genetiker und Bioinformatiker aus den USA und Deutschland Anfang 2019 in der Fachzeitschrift „Nature Medicine“. Die Wissenschaftler haben einen ganzen Algorithmenkatalog entwickelt, den sie „DeepGestalt“ nennen und der darauf trainiert wurde, anhand von Gesichtsfotografien seltene genetische Erkrankungen zu erkennen. DeepGestalt analysierte nach Training an 17.000 Bildern von Patienten mit über 200 verschiedenen genetischen Syndromen insgesamt 502 Gesichtsfotografien eines typischen Patientenkollektivs in humangenetischen Sprechstunden. Bei neun von zehn Patienten war die korrekte Diagnose unter den zehn ersten Vorschlägen. Das kann enorm weiterhelfen, gerade in Regionen, wo keine Spezialisten für seltene Erbkrankheiten verfügbar sind. „Der Hebel für Verbesserungen durch KI ist in der sprechenden und der klinischen Medizin riesig“, ist Forsting überzeugt.


Philipp Grätzel von Grätz arbeitet als unabhängiger Journalist und Redakteur für medizinische Themen und Technikthemen in Berlin.