Künstliche Intelligenz: die Zukunft der klinischen Diagnostik

06.06.2019

Ein Team von Radiologen und IT-Experten entwickelt am Universitätsspital Basel gemeinsam mit Siemens Healthineers KI-Lösungen für das Krankenhaus von morgen. Algorithmen sollen den gesamten klinischen Diagnoseprozess durchdringen – und so die Diagnostik fit machen für die stetig wachsenden Anforderungen.

Das Universitätsspital Basel (USB) ist ein massiver Gebäudekomplex in unmittelbarer Nachbarschaft der Basler Altstadt. Ein paar Schritte weiter Richtung Rhein, wo sich an warmen Tagen Badelustige den Fluss hinuntertreiben lassen, teilen sich mehrere klinische Forschungsgruppen einen schicken Altbau. Patienten verirren sich nur selten hierhin. Digitale Patientendatensätze dagegen wandern zu Tausenden zwischen den Gebäuden hin und her. Denn im Erdgeschoss des Altbaus arbeiten vier Radiologen, fünf Data Scientists und ein Pathologe vor zwei Dutzend großen Bildschirmen an der algorithmengestützten Zukunft der klinischen Diagnostik.

Dr. Bram Stieltjes
Dr. Bram Stieltjes
Leitung Forschungskoordination Radiologie und Nuklearmedizin am Universitätsspital Basel

Dr. Bram Stieltjes, selbst Radiologe, leitet die Arbeitsgruppe. Er ist nicht nur Forschungsleiter Radiologie am USB, sondern seit Kurzem zusätzlich Leiter der IT-Forschung. Viel zu tun also. In zwei Wochen wird einer von Stieltjes Mitarbeitern für ein Jahr an das Forschungszentrum von Siemens Healthineers nach Princeton in den USA gehen – eins der wichtigsten Zentren für Künstliche Intelligenz (KI) und Maschinenlernen in der Radiologie. Die Kooperation mit Princeton könnte viele ambitionierte Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Bereich KI beflügeln, darunter eines, das Stieltjes im Moment besonders am Herzen liegt.

Es geht dabei um Patienten mit Prostatakarzinom, bei denen eine Biopsie ansteht. Die Vision ist, dass MRT-Datensätze der Prostata mithilfe von maschinellem Lernen automatisch segmentiert werden und dass die Algorithmen dann anzeigen, wo am besten biopsiert werden sollte. Diese Informationen landen nicht in einem Befund, sondern sie werden als annotierter Bilddatensatz direkt an ein Ultraschallgerät übermittelt. „Der Urologe, der die ultraschallgesteuerte Biopsie vornimmt, muss dann nicht mehr mit unterschiedlichen Bildern und Befunden hantieren“, betont Stieltjes. „Er hat direkt am Bild alle Informationen, die er braucht und kann viel präziser und komfortabler biopsieren.“

Das Prostataprojekt, das derzeit noch in der frühen Planungsphase ist, findet Stieltjes deswegen so spannend, weil es zeigt, wie ein kompletter klinisch-diagnostischer Prozess unter Einbeziehung unterschiedlicher bildgebender Modalitäten mit Unterstützung durch Algorithmen digital integriert werden könnte: „In diese Richtung sollte es, glaube ich, gehen. Damit können wir für die klinische Versorgung am meisten gewinnen.“

Entwicklungsprojekte dieser Art kann ein Krankenhaus nicht allein stemmen. Neben akademischen Partnern ist auch eine enge Kooperation mit Unternehmen nötig, die Hard- und Softwarelösungen für die klinische Diagnostik anbieten. Einer der wichtigsten Kooperationspartner von Stieltjes und seinem Team ist Siemens Healthineers. „Die Kernidee hinter unserer Gruppe ist, eine Brücke zu sein zwischen Industrie einerseits und klinischer und akademischer Forschung andererseits. Wir können hier relativ schnell gemeinsam Prototypen entwickeln und sie in einer klinikähnlichen Umgebung testen.“

Dr. Bram Stieltjes

Ein schönes Beispiel für die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten des Einsatzes von KI in der Diagnostik ist ein am USB entwickeltes Prototyp-KI-System für Röntgen- oder CT-Untersuchungen. Ziel ist, bei jenen Patienten eine rasche Befundung zu gewährleisten, bei denen es darauf ankommt – etwa bei Patienten mit Frakturen oder Blutungen. „Wir haben zwei Probleme“, so Stieltjes. „Bei drei von zehn Patienten ohne klare Symptome liegt eine akute Pathologie vor. Und umgekehrt stellt sich fast die Hälfte der Patienten, die von Klinikern als prioritär eingestuft werden, letztlich als nicht dringend heraus.“

Die Basler haben deswegen einen Algorithmus darauf trainiert, akute Befunde von Normalbefunden abzugrenzen und auf dieser Basis Patienten auf der radiologischen Worklist zu priorisieren. „Das funktioniert technisch wie auch klinisch hervorragend und unsere Kliniker wollen die Anwendung auch unbedingt haben“, so Stieltjes.

Die Einbindung in die klinischen Prozesse war eine Herausforderung. „Es ist leider so, dass wir in der Radiologie aufgrund der Art und Weise, wie wir klinisch Daten aufbereiten, noch nicht wirklich bereit für selbstlernende Algorithmen sind. Da muss sich noch einiges ändern.“ Stieltjes regt zum Beispiel an, darüber nachzudenken, ob künftig wirklich noch schriftliche Befunde nötig sind oder ob Radiologen nicht eher die Bilder direkt beschriften sollten. Für Algorithmen wäre das viel praktischer. Und den Klinikern wäre es wahrscheinlich einerlei.

Das Prototypenstadium erfolgreich verlassen hat die KI-Plattform AI-Rad Companion von Siemens Healthineers, die bei der Jahrestagung der nordamerikanischen radiologischen Gesellschaft (RSNA 2018) in Chicago als Produkt gelauncht wurde. In die Entwicklung und Weiterentwicklung dieser Plattform war und ist die Basler Arbeitsgruppe um Bram Stieltjes eng eingebunden.

Das Tool soll Radiologen bei ihrer Diagnose unterstützen – derzeit nur mit CT-Bildern des Thorax. Die Plattform kann den Radiologen entlasten und die Qualität und Konsistenz ihrer Diagnostik optimieren. Insgesamt hält Stieltjes die jetzt zur Produktreife gebrachten Algorithmen für sehr ausgereift. Allerdings sind relativ große Mengen an Trainingsdaten nötig, wenn die Algorithmen auch mit Patienten klarkommen sollen, die seltenere Anatomien oder Befunde haben. „Man merkt, womit die Systeme trainiert wurden“, so Stieltjes. Häufig seien normale oder leicht pathologische Befunde überrepräsentiert. Die Ergebnisse von Validierungsstudien lassen sich daher oft nicht eins zu eins auf klinische Kollektive übertragen.

Es seien aber keineswegs immer die Algorithmen, die falsch lägen, betont Stieltjes: „Wenn Radiologen einen Befund erstellen, gibt es eine gewisse Variabilität von etwa 10 bis 20 Prozent in Abhängigkeit vom Untersucher. Bei einer algorithmengestützten Befundung fällt diese Variabilität komplett weg und die Ergebnisse sind sehr konstant. Das allein ist schon ein Riesenvorteil von KI-Plattformen wie AI-Rad Companion“, so Stieltjes.

Eine weitere Anwendung von Siemens Healthineers, die die Basler derzeit im Prototypenstadium evaluieren, ist AI-Pathway Companion: „Bei dieser Anwendung geht es um eine integrierte Entscheidungsunterstützung“, so Stieltjes. Die Anwendung besteht zum einen aus einem Frontend, das die unterschiedlichen diagnostischen Informationen zu einem Patienten grafisch zusammenführt und dies um verfügbares Therapiewissen, zum Beispiel aus evidenzbasierten Leitlinien, ergänzt. Zum anderen werden KI-Algorithmen genutzt, um Risiken zu quantifizieren und individuelle Krankheitsverläufe vorherzusagen. Angewandt zum Beispiel auf den Prostatakrebs, unterstützt die Software die Arbeit der Tumorboards und erleichtert nicht zuletzt die interdisziplinäre Zusammenarbeit. „Klinisch geht es in letzter Konsequenz darum zu entscheiden, welche Therapie für den jeweiligen Patienten die am besten geeignete ist“, so Stieltjes. Die Software könne aber auch zur Prozessoptimierung genutzt werden, etwa indem analysiert wird, wie viele diagnostische Schritte nötig waren, um zu einer bestimmten Entscheidung zu kommen.

Insgesamt ist Stieltjes optimistisch, dass es bald nicht mehr nur einzelne radiologische Abteilungen sind, die einzelne KI-Anwendungen für jeweils sehr spezifische Fragestellungen einsetzen: „In fünf bis zehn Jahren wird es kaum noch einen Prozess ohne KI-Unterstützung geben.“ Dazu beitragen werde nicht zuletzt der wachsende Druck auf die diagnostischen Fächer durch immer zahlreichere, immer umfangreichere Untersuchungen und Datensätze: „Das Datenvolumen in der Medizin verdoppelt sich alle zwei bis drei Jahre. Das ist ein enormer Treiber für die Digitalisierung.“ Stieltjes berichtet von einer Untersuchung aus den USA, die herausfand, dass allein im dortigen Gesundheitswesen innerhalb der nächsten zehn Jahre 50.000 neue diagnostische Stellen zusätzlich besetzt werden müssten, um den wachsenden Anforderungen Herr zu werden: „Mit Menschen alleine können wir diese Herausforderungen nicht bewältigen. Wenn wir unsere Prozesse nicht ändern und vermehrt KI-Algorithmen einsetzen, dann wird die diagnostische Qualität sinken. Wir brauchen neue Tools, wenn wir mit der Datenflut, die auf uns zukommt, umgehen wollen.“


Philipp Grätzel von Grätz arbeitet als unabhängiger Journalist und Redakteur für medizinische Themen und Technikthemen in Berlin.