Digitalisierung als Qualitätsoffensive

Digitalisierung als QualitätsoffensiveDas vernetzte Gesundheitswesen: Die Zukunft ist digital!

07.07.2017

Die Zeiten, in denen sich die Digitalstrategie eines Krankenhauses auf die Auswahl eines geeigneten Krankenhausinformationssystems beschränken konnte, sind vorbei. Wer im Wettbewerb um Patienten bestehen will, wer die immer weiter ausufernden regulatorischen Vorgaben erfüllen und in der sich entwickelnden Plattformökonomie des Gesundheitswesens nicht untergehen möchte, der muss die Digitalisierung zur Chefsache machen – und dabei die komplette Versorgungskette, vor allem aber die Versorgungsqualität im Blick haben.

Wenn es um die Digitalisierung der Krankenhauswelt geht, dann ist der Vorstandsvorsitzende des gemeinnützigen Agaplesion-Konzerns, Dr. Markus Horneber, in seinem Element: „Das ist ein Thema von allerhöchster strategischer Bedeutung. Es darf nicht irgendwo im Marketing-Budget untergebracht werden und es darf auch nicht beim Aufsichtsrat angesiedelt sein. Wer die Digitalisierung nicht auf Vorstandsebene angeht, läuft über kurz oder lang Gefahr unterzugehen.“

Immer mehr Vorstände und Chefärzte in Deutschlands Krankenhäusern verstehen die enorme Bedeutung der Digitalisierung für ihre Einrichtung. Beispiel Rostock: Dort plant der Vorstand des Uniklinikums eine regionale Patientenakte für ganz Mecklenburg-Vorpommern. Beispiel Köln: Im Krankenhaus der Augustinerinnen setzt der leitende Radiologe auf die Cloud, um die Qualität der CT-Bildgebung zu optimieren.

Horneber
Dr. Markus Horneber, Vorstandsvorsitzender AGAPLESION gemeinnützige AG

Agaplesion, das im Jahr 2002 im Frankfurter Raum gegründet wurde und bundesweit über 25 Krankenhäuser, 20 Medizinische Versorgungszentren (MVZ) und 35 Wohn- und Pflegeeinrichtungen, zumeist in evangelischer Trägerschaft verfügt, geht die Digitalisierung besonders breit an. Dr. Horneber hat seinem Unternehmen eine Digitalstrategie verordnet, die die gesamte Organisation umfasst und durchdringt: „Seit etwa drei Jahren geht es in jeder Führungskräftekonferenz um Digitalisierung. Das ist bei uns ein Dauerthema.“ Das Fundament der Digitalstrategie von Agaplesion bildet eine recht homogene IT-Landschaft. So nutzen fast alle Akut-Krankenhäuser dasselbe Klinikinformationssystem und fast alle Alten- und Pflegeheime dasselbe Pflegesystem. Agaplesion verfügt außerdem über ein konzernweites Data Warehouse.

Auf Ebene der Organisation ging die Vereinheitlichung der Technik einher mit einer Umstrukturierung der IT. Durch Neueinstellungen und dadurch, dass IT-Verantwortliche dem Zentralen Dienst IT unterstellt wurden, wuchs dieser von 30 auf 90 Mitarbeiter, die in Gruppen zusammenarbeiten. Mit dieser leistungsfähigen Struktur soll unter anderem bis Ende 2017 flächendeckend eine alle Bereiche umfassende elektronische Patientenakte eingeführt werden.

Die technische und organisatorische Einheitlichkeit begünstigt auf nächsthöherer Ebene zahlreiche andere IT-Projekte in den unterschiedlichsten Unternehmensbereichen. Rund dreißig laufen parallel. So wird eine konzernweite E-Learning-Plattform aufgebaut. In Frankfurt plant Agaplesion den Einsatz von Drohnen, die Blutkonserven transportieren. Und in Holzminden wurde gerade ein Pilotprojekt abgeschlossen, bei dem Betten und Medizingeräte nach Art eines „Indoor-GPS“ lokalisiert werden können.

Besonders im Fokus der Digitalisierung steht bei Agaplesion die intersektorale Vernetzung. Damit befindet sich der Konzern international in guter Gesellschaft. So wird in Österreich bundesweit die elektronische Gesundheitsakte ELGA ausgerollt. ELGA ist kein Datencontainer, sondern eine Integrationsplattform auf Basis von IHE-Standards und unter Kontrolle des Patienten, die es erlaubt, regional oder überregional medizinische Einrichtungen miteinander und mit Patienten zu vernetzen. Auch in Deutschland nutzt ein erstes Krankenhaus jetzt diese Plattformtechnologie.

Agaplesion kümmert sich um die transsektorale Versorgung, unter anderem in dem in Darmstadt angesiedelten Projekt „SimPat“, einer sektorenübergreifenden Plattform für geriatrische Patienten. SimPat ist ein Lieblingsprojekt von Dr. Horneber: „Es passt gut zu unserer Konzernstrategie, bei der wir in Regionen, in denen wir uns engagieren, eine transsektorale Vollversorgung anstreben. SimPat erhält Fördermittel vom Bundesforschungsministerium. Bei der App „Arya“ ist Agaplesion im Rahmen des Startup-Inkubators Flying Health selbst Fördermittelgeber. Auch Arya überbrückt die Sektoren. Die App ist für die nachstationäre Betreuung von Patienten mit Depression gedacht. Im „Get-on“-Projekt wiederum geht es um die Betreuung psychiatrischer Patienten.

Ein Ziel aller genannten Projekte ist eine bessere Behandlungsqualität nach der Entlassung. Ist das die Aufgabe eines Krankenhauses? Dr. Horneber hält diese Frage für völlig verfehlt: „Sektorengrenzen spielen bei mir schon lange keine Rolle mehr, weder die Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung noch die Grenzen zwischen SGB V und SGB XI. Es geht um Menschen, die Bedürfnisse haben, und die müssen wir so gut wie möglich erfüllen.“ Immer wieder kommt der Krankenhausvorstand auf die eine oder andere Weise auf diesen Punkt zurück: „Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Es geht um bessere Behandlungsqualität und bessere Betreuungsqualität.“

Zur gesundheitspolitischen Großwetterlage passt diese Maxime gut. Seit dem am 1. Januar 2016 in Kraft getretenen Krankenhausstrukturgesetz müssen Krankenhäuser Qualität stärker als bisher messen und an das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) melden.

Die Digitalisierung vereinfacht die praktische Umsetzung dieses „Qualitätsmonitorings“ und eine auf Behandlungsqualität angelegte Digitalstrategie trägt in Zeiten zunehmender Transparenz dazu bei, ein Krankenhaus im Qualitätsranking gut dastehen zu lassen. Mit dem Qualitätsbegriff des IQTIG fremdelt Horneber allerdings: „Die Qualität, die das IQTIG misst, ist nur ein ganz kleiner Teil. Natürlich ist das medizinische Outcome wichtig, aber Qualität, so wie ich sie verstehe, bedeutet auch, Patienten Sicherheit zu geben, sie zu informieren und sie umfassend zu betreuen.“

Überhaupt die Gesetzgebung. Dr. Horneber hält die Reformen der letzten Jahre überwiegend für eine Schlacht der Vergangenheit: „Wir stehen vor einem riesigen Umbruch, der eng mit der Digitalisierung zusammenhängt. In den nächsten Jahren wird der Markt neu aufgeteilt. Und es ist alles andere als sicher, dass wir Krankenhäuser in der heutigen Form überleben. Die Apples und Googles werden uns angreifen. Es werden neue Versorgungswege und neue Behandlungsstrategien entstehen. Wem das als Vorstand nicht klar ist, der hat ein Erkenntnisproblem.“

Wer das genauer verstehen will, geht nach Berlin. Dort, an der Ecke Friedrichstraße- Mohrenstraße, befindet sich „Mindspace“, ein Co-Working-Büro, das sich der digitalmedizinische Inkubator Flying Health als Heimatbasis gewählt hat – umgeben von IT-Startups aus allen denkbaren Branchen.

Hinter Flying Health stehen Dr. Markus Müschenich, ein ehemaliger Kinderarzt, und Christian Lautner, Gründer eines der ersten Arztbewertungsportale. Flying Health unterstützt Gesundheits-Startups beim Eintritt in den ersten Gesundheitsmarkt und gleichzeitig große Unternehmen der Gesundheitswirtschaft bei der Entwicklung digitaler Strategien.

Mit dem Unfallkrankenhaus Berlin besteht eine Forschungs- und Entwicklungspartnerschaft. Dr. Müschenich denkt schon lange darüber nach, was passiert, wenn die in vielen Branchen zu beobachtende Digitalisierungswelle das Gesundheitswesen voll erfasst. So unterschiedlich die Digitalisierung von Branchen wie dem Handel, der Automobilindustrie, dem Tourismus oder dem Bankenwesen im Detail sein mag, eine Gemeinsamkeit ist, dass sich digitale Plattformen entwickeln, die Kunden und – traditionelle wie neue – Anbieter von Leistungen effizient zusammenbringen.

Gleichzeitig wird Qualität in einer Weise transparent, wie es das vorher nicht gab. „Unsere These ist, dass auch im Gesundheitswesen eine überschaubare Anzahl solcher Plattformen entstehen wird, die medizinische Angebote bündeln“, so Dr. Müschenich. Auf Dauer bernehmen diese Plattformen dann eine Steuerungsfunktion, die früher allenfalls der Hausarzt in Ansätzen wahrgenommen hat. Ob der Patient selbst derjenige ist, der seine Behandlung mithilfe von digitalen Plattformen plant, oder ob die Plattformen im Wesentlichen ein Vehikel für Versicherungen werden, ist eine der noch offenen Fragen.

Dr. Müschenich tippt auf ersteres: „Wir denken, dass eine Art eigener digitalmedizinischer Sektor entsteht, der sich den bisherigen Sektoren nicht zuordnen lässt.“ Käme das so, dann muss für diesen „Sektor“ an irgendeiner Stelle Geld fließen. Selbst wenn das nur wenige Prozent der derzeit 344 Milliarden Euro Gesundheitskosten pro Jahr sind, werden relevante Beträge umverteilt: „Das ist dann extrem gut für die Plattformbetreiber und extrem schlecht für jene, die nicht über die Plattformen angesteuert werden“, so Dr. Müschenich.

Agaplesion-Vorstand Dr. Markus Horneber sieht diese Zukunftsvision mit gemischten Gefühlen. „Im ungünstigsten Fall werden die Plattformen so mächtig, dass wir nur noch Provider sind, die das Knie einbauen. Ich denke deswegen, dass wir uns an dem Wandel beteiligen müssen, um Einfluss zu nehmen.“ Unabhängig davon versucht Agaplesion, sich mit seiner digitalen Qualitätsoffensive auf den Umbruch optimal vorzubereiten: „Wenn wir bestehen wollen, dann über Qualität. Wir müssen so gut sein, dass die Patienten zu uns kommen. Wenn wir keine Qualität bieten können, sind wir irgendwann weg, das steht fest.“