Krise als Einladung zur Veränderung: Gibt es aus Ihrer Sicht Lehren aus transformatorisch erfolgreichen Branchen, die sich auf das Gesundheitssystem übertragen lassen?
Disruptive Player wie Booking, Amazon oder auch Apple und Tesla haben gezeigt, dass die radikale Fokussierung auf Kundenbedürfnisse und die konsequente und durchgängige Umsetzung im Digitalen zum Erfolg führen. Das lässt sich auch auf das Gesundheitssystem übertragen: Durchgängige Digitalisierung der Prozesse, fortschreitender Einsatz von AI (bspw. in der Diagnostik), Patienten ganzheitlich begleiten, inklusive Vor- und Nachsorge. Ich habe gerade ein Papierrezept vor mir liegen, das ich gleich in der nächsten Apotheke einlösen werde. Das Apothekenteam wird mir mitteilen, dass sie das Medikament erst bestellen müssen, aber ich könne ja morgen Früh wiederkommen. Das kann und sollte nicht so sein.
Wir reisen 10 Jahre in die Zukunft Deutschlands – dominiert bei Ihnen Vorfreude oder Besorgnis mit Blick auf Innovationsfähigkeit im Allgemeinen und Digitalisierung im Speziellen?
Die Innovationsfreunde ist aus meiner Sicht in den letzten Jahrzehnten gesunken. Nach der Aufbruchstimmung und Technikgläubigkeit der 50er- und 60er-Jahre – befeuert durch Raumfahrt, den Einzug von elektrischen Geräten aller Art zu Hause oder auch die kommerzielle Nutzung der Kernenergie – erleben wir heute eine Skepsis gegenüber dem Neuen im Allgemeinen und gegenüber dem Digitalen im Speziellen. Sogar Vertreter der Generationen Y und Z sind mitunter bspw. beim digitalen Bezahlen oder beim DIY Health sehr zurückhaltend und vorsichtig. Die Mobilitätswende wird nach wie vor nicht konsequent verfolgt, Infrastruktur-Projekte werden mehr und mehr torpediert und grosse Visionen mit viel Venture Capital zur Umsetzung sucht man in Europa vergebens. Ich persönlich habe das Gefühl, dass wir es uns sehr gemütlich eingerichtet haben und das vorherrschende Motto ist „Nur nicht zu viel auf einmal verändern, eigentlich passt alles so, wie es ist.“. Diese Attitüde ist gefährlich, das sehen wir heute schon bspw. an der Liste der grössten 100 Unternehmen der Welt nach Börsenkapitalisierung: Nur noch 16 davon sind in Europa zu Hause, aus Deutschland nur noch SAP. Ich frage meine Studierenden immer: Nennen Sie doch mal die drei grössten Tech-Companies in Deutschland. Nach SAP ist meistens Schluss, das ist ein Problem.
Das einmal Erreichte bewahren und verteidigen ist leider keine Zukunftsstrategie. Ich denke, dass wir uns mehr anstrengen und mehr riskieren müssen, um die nächsten 10 Jahre im internationalen Vergleich aufzuholen und zumindest in Teilen auch wieder Weltspitze sein zu können, insbesondere bei der Digitalisierung. Ergo: Vorfreude und Besorgnis in einem…
Transformation ist mehr denn je das Gebot der Stunde: Wie steht es um Ihre eigene Anpassungsfähigkeit und haben Sie für sich persönlich neue Erkenntnisse aus der Ausnahmesituation der vergangenen Wochen mitgenommen?
Zunächst einmal war ich überrascht, wie reibungslos bei uns der Wechsel vom Büro ins Homeoffice und schrittweise zurück geklappt hat. Obwohl wir sehr flexibel bei Arbeitszeiten und -orten sind, haben wir vorher nie getestet, ob wir ganz ohne Büros und physische Meetings auskommen über einen längeren Zeitraum. Viele Kollegen haben zu Hause nicht die optimalen Bedingungen für ein konzentriertes Arbeiten, die Disziplin, Motivation und Kreativität beeindruckt mich sehr! Auch die Zusammenarbeit mit unseren Kunden hat nicht sonderlich gelitten und wir konnten sehr erfolgreich virtuelle Workshopformate in kürzester etablieren. Nichtsdestotrotz freue ich mich riesig auf jeden bei einem persönlichen Treffen in unseren Büros, Videokonferenzen ersetzen eben doch nicht ganz den persönlichen Austausch.
Die wichtigste Erkenntnis für mich persönlich ist, dass man viel mehr als gedacht virtuell erledigen kann. Vor COVID-19 habe ich mich fast einen halben Tag pro Woche mit Reiseplanung beschäftigt, dahin gehe ich nicht mehr zurück. Weniger dienstlich reisen, mehr Flexibilität und gleichzeitig mehr Ergebnis bei besserer Laune haben mich überzeugt.