Innovationskultur

Warum die Computertomografie neu definiert wurde

Um die bahnbrechende Idee vom photonenzählenden Detektor1 zu realisieren, musste alles, was in der Computertomografie etabliert war, neu definiert werden.

8min
Andrea Lutz
Veröffentlicht am November 16, 2021

Die Frage, was das „Photonen zählen“ für die Computertomografie (CT) bedeutet, beantwortet Stefan Ulzheimer, Programm Manager Photon-counting CT, so: „Die Entwicklung ist vergleichbar mit der vom verpixelten Schwarzweißfernsehen hin zum HD-Farbfernsehen.“

Bei der Etablierung des photonenzählenden Detektors geht es allerdings bei Weitem nicht nur darum, bessere Bilder mit dem CT zu erzeugen, sondern auch darum, die genannten „Farben“ zu nutzen, um differenzierter zu befunden und „wertvolle klinische Informationen zu gewinnen, die Ärzten früher aussagekräftige Diagnosen und therapierelevante Diskussionen ermöglichen können“, wie Prof. Dr. Thomas Flohr, Leiter CT Concepts, betont. Und um die genannten Zusatzinformationen schnell verfügbar zu machen, musste alles, was in der Computertomografie technisch etabliert war, neu erfunden werden. Diese Reise hat 20 Jahre gedauert.

Professor Thomas Flohr, PhD, Head of CT Concepts, Siemens Healthineers

Seit fast 50 Jahren ist die Computertomografie in der Klinik unverzichtbar, um Erkrankungen frühzeitig und schnell zu erkennen und zu bestimmen. Aber in manchen Fällen ermöglichen CT-Scans keine eindeutige Diagnose, denn der erreichbare Detailgrad einer konventionellen CT Aufnahme ist limitiert und die Technologie ist ausgereizt. Grund dafür ist das konventionelle Detektionsprinzip: Da ist auf der einen Seite die Röntgenröhre. Die von ihr ausgesandte Strahlung, die aus einer Vielzahl kleinster, energiegeladener Teilchen – den Quanten – besteht, wird bei der Durchdringung eines Körperteils abgeschwächt. Oder anders gesagt: eine gewisse Anzahl von Quanten bleibt im Gewebe stecken. Der Energieverlust am Ende des Wegs hängt davon ab, wie dicht oder durchlässig ein Gewebe ist und auf welche Materialien die Teilchen bei ihrer Reise treffen.

Dem Röntgenstrahler gegenüber liegt das Ziel – der Detektor. Er hat die Aufgabe, möglichst alle Quanten, die das Gewebe durchdringen, zu absorbieren und dann in ein elektrisches Signal umzuwandeln, aus dem ein Bild errechnet wird. Allerdings kann ein herkömmlicher Detektor nur die Summenwirkung dieser Quanten erfassen – er gibt also nur einen „Intensitätswert“ des ankommenden Signals aus. Und damit geht eine wichtige Information verloren, denn der Anteil an Röntgenquanten mit niedrigerer Energie wird bei diesem Prinzip nicht erfasst. Praktisch bedeutet das: Eine herkömmliche CT-Untersuchung kann zwar aufzeigen, dass ein bestimmtes Gewebe vorhanden ist – ein Tumor in der Leber, eine Problematik in den Herzkranzgefäßen. Aber die herkömmliche Computertomografie lässt keine weiteren Rückschlüsse darauf zu, was das für den Patienten bedeutet.
In der Physik sind Quanten die allerkleinsten Einheiten, die man nicht weiter teilen kann. „Photon“ heißt das Quant des elektromagnetischen Feldes.

Ein photonenzählender Detektor kann die ankommenden Röntgenquanten direkt in ein elektrisches Signal umwandeln. Außerdem zählt er – wie der Name sagt – jedes einzelne Photon, also jedes Energiepaket, das ein Gewebe durchdrungen hat, und übermittelt, wie hoch die Energie beim Auftreffen auf den Detektor noch ist. Weil nun die Energie der Quanten etwas über die Materie aussagt, die der Röntgenstrahl durchdrungen hat, ist es möglich, ein CT-Bild in verschiedene Materialien aufzuschlüsseln. Bis zu vier verschiedene Energiestufen können ausgelesen und farblich kodiert werden. So ist beispielsweise bei Knochenmetastasen eine Heterogenität erkennbar, die vorher nicht sichtbar gemacht werden konnte.

Beispielsweise in unterschiedliche Gewebearten oder auch in Kontrastmittel wie Jod und Bariumsulfat.
Misst man die Energie der Photonen, dann kann das echte Signal von Elektronikrauschen unterschieden werden. Und das ermöglicht einen wesentlichen Vorteil: Das störende Elektronikrauschen kann erstmalig komplett eliminiert werden. Dies führt zu einer besseren Bildqualität bei allen Anwendungen, die mit einem niedrigen Detektorsignal auskommen müssen – wie etwa Screening-Untersuchungen, bei denen man von vornherein eine niedrige Röntgenstrahlung losschickt, um die Patienten zu schonen.

Stefan Ulzheimer, PhD, Program Manager for photon-counting CT, Siemens Healthineers

Bei photonenzählenden Detektoren können die Detektorpixel stark verkleinert werden. So kann das Messobjekt mit einer höheren räumlichen Frequenz abgetastet werden. Dies kann direkt zu einer höheren räumlichen Auflösung im Vergleich zu herkömmlichen Detektoren verwendet werden – vorteilhaft zum Beispiel bei der Diagnostik des Herzens, bei der man die Koronararterien genau erkennen möchte. Oder aber, um die Strahlendosis bei Untersuchungen zu senken; wieder ein großes Plus für alle Vorsorge- und Kontrolluntersuchungen.

Um all diese Vorzüge zu realisieren, musste die Computertomografie in mehreren Komponenten neu gedacht werden. Photonen zählen ist mehr als nur der Einbau eines neuen Detektors. Darum starteten Thomas Flohr und Stefan Ulzheimer mit ihren Teams bereits 2001 auf eine beinahe 20 Jahre dauernde Reise. Im Gepäck das Motto: Jedes Photon zählt!

In einem CT-Gerät werden ein Röntgenstrahler und ein Detektorsystem auf einer Kreisbahn um Patientin oder Patient bewegt. Bei herkömmlichen Detektorsystemen – sogenannten energieintegrierenden Detektoren – werden Röntgenstrahlen zuerst durch eine Szintillatorschicht in sichtbare Lichtsignale umgewandelt und anschließend von Photodioden in elektrische Stromsignale konvertiert, die dann digitalisiert werden. So berechnet ein Computer Bilder, die das Innere des Körpers überlagerungsfrei zeigen. Ein photonenzählender Detektor dagegen besteht aus einem Halbleitermaterial, das in der Lage ist, Röntgenstrahlen direkt in elektrische Signalimpulse umzuwandeln. So geht keine Energieinformation aus den Röntgenquanten mehr verloren – und die Direktumwandlung erspart einen Zwischenschritt. Das macht das neue Detektionsprinzip besonders effizient. Und es stellt im Vergleich zu einem konventionellen CT mehr Daten und damit klinische Informationen zur Verfügung.

Moleküle in einem Szintillator werden beim Durchgang von Photonen angeregt und geben die so entstandene Energie in Form von Licht ab.
Der photonenzählende Detektor liefert also mehr Informationen in kurzer Zeit. Um diesen Vorteil zu nutzen, wurde das gesamte CT-Systemkonzept erneuert – die Hardware, die Software und die Datenübertragung. Auf Rechnern von bisher in der Medizintechnik unbekannter Leistungsfähigkeit können jetzt in wenigen Sekunden dreidimensionale Bilder berechnet werden. Und das Tempo ist hierbei entscheidend, denn der Arzt will in der klinischen Routine die gewohnte Performance erleben – die Bilder müssen nach dem Ende der Untersuchung schnellstens verfügbar sein, auch wenn die Rechenleistung dahinter neuerdings gigantisch ist. Es war ein eigenes Mammutprojekt, einen Computer zu entwickeln, der diese Datenmenge in kurzer Zeit verarbeiten kann und dazu noch in einem marktfähigen Preisrahmen bleibt.

Christian Schröter is head of the crystal center.

Ein weiteres Teilprojekt von gigantischem Ausmaß ist die Herstellung des Materials, aus dem der Detektor gebaut wird: Cadmiumtellurid (CdTe). Bereits 2001 wurde CdTe als vielversprechendes Material für den Detektor identifiziert. Allerdings erfüllte das damals verfügbare Material nicht die hohen Qualitätsstandards der medizinischen CT. Weil nun die Anwendung von photonenzählenden Röntgendetektoren in der klinischen Routine Realität wird, gilt es, die benötigten Kristalle in so großen Mengen herzustellen, dass sie für tausende Systeme ausreichen.

In 20 Jahren wurde dieser aufwändige Prozess Seite an Seite mit wichtigen Partnerunternehmen perfektioniert – denn die Herstellung von Kristallen duldet nichts anderes als Makellosigkeit: Dafür werden mit Kohlenstoff beschichtete Ampullen mit Cadmium und Tellur gefüllt und über einer offenen Flamme versiegelt. Anschließend wird das Material zusammen mit dem Keim eines zuvor gezüchteten perfekten Kristalls in eine neue Ampulle für den eigentlichen Kristallzüchtungsprozess gegeben. Zehn Wochen lang wandern diese Ampullen durch ein Heizelement und der Kristall wächst langsam. Das gezüchtete Cadmiumtellurid weist schließlich einen Reinheitsgrad von über 99,9999 Prozent auf.
In Forchheim wurde ein eigenes Labor zur Produktion der Kristalle eingerichtet: das 2020 eröffnete “Crystal Center”.
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Björn Kreisler, PhD, Senior Key Expert for detectors, Siemens Healthineers

Die aufgrund des eingebrachten Cadmiumtellurids besonders feine Strukturierung der Detektoren ermöglicht eine erhöhte Bildschärfe. So können Strahlendosis und Kontrastmittel eingespart werden. Und genau dies ermöglicht auch Personengruppen den Zugang der Computertomografie, bei denen bisher Bedenken aufgrund der Strahlen- oder Kontrastmittelbelastung bestanden – beispielsweise Kinder oder Personen mit Nierenerkrankungen. Weil Kontrastmittel effektiver detektiert werden können, ist es jetzt auch denkbar, andere Kontrastmaterialien wie Wismut oder Gold darzustellen. Außerdem kann die Bildgebung voraussichtlich weiter verbessert werden, wenn bald neue, an die Eigenschaften des quantenzählenden Detektors angepasste Kontrastmittel eingesetzt werden. „Nachdem es bisher kein CT gab, das verschiedene Kontrastmittel unterscheiden konnte, gab es für die Hersteller keinen Anreiz, neue Kontrastmittel zu entwickeln. Wir sehen jetzt sehr viel Interesse und Forschungsaktivität in diesem Bereich,“ berichtet Stefan Ulzheimer.

Radiologen müssen Patienten vor der Gabe von jodhaltigen Kontrastmitteln über Risiken aufklären und auf mögliche Nierenschäden hinweisen.

Die Schritte hin zur komplett neu erfundenen Computertomografie waren zahlreich. Bis heute sind rund um die photonenzählende Technologie hunderte Patente entstanden. Stefan Ulzheimer: „Wir wollen uns darauf konzentrieren, möglichst schnell und ohne uns gegenseitig zu behindern, sinnvolle Produkte auf den Markt zu bringen.“ Und „sinnvoll“ heißt für Siemens Healthineers auch, dass der klinische Nutzen quantifizierbar sein soll. Eine Vision, die Ulzheimer beschreibt klingt so: „In fünf bis zehn Jahren gibt es möglicherweise keine diagnostische Katheteruntersuchung für die Koronararterien zum Ausschluss von signifikanter Stenose mehr (…) Wir haben den Plan, jetzt die Vorteile dieser Technologie herauszuarbeiten und quantifizierbar zu machen.“


Von Andrea Lutz
Andrea Lutz ist Journalistin und Business-Trainerin mit den Schwerpunkten Medizin, Technik und Healthcare IT. Sie lebt in Nürnberg, Deutschland.