Digitalisierung: Mehr Mut zur Innovation

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Moritz Gathmann
Veröffentlicht am 3. Juli 2018

Am Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit dominieren die Digitalisierung des Gesundheitswesens und Künstliche Intelligenz die Diskussion.

Auf dem Hauptstadtkongress in Berlin dominieren Digitalisierung und Künstliche Intelligenz die Diskussionen. Bremst Deutschland sich dabei selber aus?

Fotos: WISO / Schmidt-Dominé

Eigentlich waren sich alle Keynote-Sprecher bei der Eröffnung des Hauptstadtkongresses Anfang Juni in Berlin einig: sie forderten von Ärzteschaft, Politik und Industrie mehr Mut zur Innovation, mehr Mut zur Veränderung. Nur so, da war man sich ebenso einig, kann man den Trends steigende Kosten und Fachkräftemangel begegnen. „Den Anspruch haben, wieder mehr ins Weltall zu fliegen, und uns nicht in Diskussionen über die Datenschutz-Grundverordnung verhaken“, auf diese Formel brachte es Gesundheitsminister Jens Spahn.

Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister, sprach über die Digitalisierung des Gesundheitswesen und Künstliche Intelligenz

Beeindruckt zeigte sich die versammelte Zuhörerschaft, als der Moderator der Diskussion, Erwin Böttinger, Professor für Digital Health und Personalized Medicine am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, von seinem Smartphone auf die Leinwand projizieren ließ, was in den USA inzwischen Usus ist: In einer App auf seinem Handy hat er alle Arztbesuche, Behandlungen und Befunde gespeichert. Auf diese kann er jederzeit zugreifen – und sie bei einem Arztbesuch auch diesem zur Verfügung stellen. Dabei gehe es in den USA vor allem um Qualitätssteigerung, Kostensenkung und Patientenzufriedenheit. Hierzulande müsse es vor allem das Ziel sein, die Qualität der Medizin zu verbessern, so Markus Müschenich, Mitbegründer des Flying Health Incubators und Vorstand des Bundesverbandes Internetmedizin.

Erwin Böttinger stellte eine Smartphone App vor, die Patienten Zugriff auf ihre medizinische Daten gibt.

In den USA, so Böttinger, seien mit dem „Health Information Technology for Economic and Clinical Health Act“ von 2009 bereits 36 Milliarden US-Dollar investiert worden. In Deutschland dagegen hemmten schärfere regulatorische Bedingungen die Entwicklung. Gleichzeitig würden schon heute 70 Prozent der Bundesbürger die elektronische Gesundheitsakte fordern, so Annette Grüters-Kieslich, Vorstandsvorsitzende Direktorin des Universitätsklinikums Heidelberg. Allerdings müsse die Frage beantwortet werden, woher das Geld kommen soll: „Die Universitätsmedizin und die niedergelassenen Ärzte haben dafür kein Geld.“

Annette Grüters-Kieslich sprach über die Erwartungen der Bürger an die Digitalisierung des Gesundheitswesens

„Jeden Tag ruft bei uns eine chinesische Firma an, die uns kaufen will“, berichtet Hirnforscher Martin Hirsch, Gründer der Ada Health GmbH, die führend im Bereich Künstliche Intelligenz ist und eine App entwickelt hat, deren Algorithmus dem Patienten und dem behandelnden Arzt mit Symptomanalysen dabei hilft, die richtige Diagnose zu stellen, insbesondere wenn es um seltene Krankheiten geht. Obwohl erst seit 2017 auf dem Markt, hat die App heute schon weltweit knapp vier Millionen Abonnenten, aber in Deutschland ist die Rechtslage bis heute problematisch. „Irgendwann wird der Druck zu groß, da werden unsere Shareholder einknicken“, beschreibt er die Situation. Das bedeutet: Einmalige Kompetenzen wandern ab aus Deutschland.
 

Hirnforscher Martin Hirsch, Gründer der Ada Health GmbH, die führend im Bereich Künstliche Intelligenz ist.

In China, so fügte Friedrich von Bohlen, Geschäftsführer der Molecular Health GmbH hinzu, gehöre heute schon für alle Medizinstudenten Künstliche Intelligenz zum Curriculum: „Wenn wir zu lange warten, machen es andere.“

Friedrich von Bohlen befürchtet eine Abwanderung von Fachkräften in Bezug auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Dabei, so gab Bernd Montag zu bedenken, sei die Medizinindustrie mit 800.000 Beschäftigten, übrigens ähnlich viele wie in der Automobilindustrie, eine Schlüsselbranche Deutschlands. Aber um die Chancen zu nutzen, brauche das Land ein Umdenken weg vom reinen Appellcharakter. „Nicht wir müssen oder sollen, sondern wir wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen“, betonte er. Dazu müssten allerdings alle, von den Radiologen über die Labormediziner bis zur Industrie selbst, über die Veränderung der eigenen Rollen nachdenken: „Wir müssen uns fragen: Wer sind wir eigentlich?“ Der Labormediziner sei heute nicht mehr derjenige, der jeden Test kennt, sondern „der Leiter einer filigranen Fabrik, die Wissen generiert.“ Die Rolle von Siemens Healthineers sieht Montag darin, „das GPS des Gesundheitswesens zu entwickeln.“

Wir wollen die Chancen ergreifen, die uns die Digitalisierung des Gesundheitswesens bieten.

Redner wie Hirsch zeigten sich überzeugt, dass am Ende der wichtigste Treiber von Veränderungen der Nutzer selbst sein werde, der heute daran gewöhnt sei, sehr vieles über das Handy zu organisieren und für den die aktuellen Bedingungen des Gesundheitssystems oft anachronistisch sind. „Das Gesundheitssystem beginnt für ihn auf dem Smartphone, nicht im Wartesaal“, sagt Hirsch. Bei der Verwertung der im Zuge der Digitalisierung entstehenden Patientendaten werden uns dabei grundlegende Diskussionen bevorstehen: Gehören die Daten am Ende wirklich dem Patienten? Denn insbesondere Pharmafirmen und Universitäten haben daran natürlich großes Interesse. Schon gebe es erste Firmen, so Müschenich, die Patientendaten anbieten.

Warum also dauert es in Deutschland so lange, die Digitalisierung voranzutreiben – Stichwort Gesundheitskarte, bei deren Einführung zwischen Entscheidung und Realisierung ein gutes Jahrzehnt verging? Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, forderte: Raus aus der Machtdebatte zwischen Leistungsempfängern, Leistungsträgern und Krankenkassen.

Frank Ulrich Montgomery will die Digitalisierung des Gesundheitswesens voran bringen.

Ähnlich lange dauert die Umsetzung der Telematik-Infrastruktur, deren Forcierung Markus Müschenich forderte. Denn wenn nicht klar sei, wie mit etwas Geld zu verdienen sei, beschäftige sich auch niemand damit. Der Staat müsse sich um die Einrichtung der „digitalen Autobahn“ kümmern, die Industrie und Wissenschaft werde dann die „Autos“ dafür schaffen: „So werden wir wieder Vorreiter in der Medizin.“

Als Schritt in die richtige Richtung bewertet man einstimmig, dass der Ärztetag im Mai das Fernbehandlungsverbot gekippt hat. Allerdings, so gab Ärztepräsident Montgomery zu bedenken, werde dies niemals den Arztbesuch ersetzen: In der Telemedizin gehe es vor allem um Ferndiagnosen. Eine Behandlung wird dagegen auch in Zukunft vorwiegend in der Praxis stattfinden.

Dr. Markus Müschenich ist im Vorstand im Bundesverband Internetmedizin e.V.

Von Moritz Gathmann
Moritz Gathmann ist freier Journalist in Berlin. Er berichtet für Magazine und Tageszeitungen, darunter „Spiegel“, „Frankfurter Allgemeine“ und „Brand Eins“.